Unwahre Behauptungen über „Triage“ in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Es reicht aus, wenn ein Verbandsvertreter der Kinder- und Jugendärzt*innen mit dem Ziel einer schnelleren Schulöffnung den Begriff der „Triage“ in der Kinder- und Jugendpsychiatrie erwähnt – und die Presse spricht bundesweit davon. Die Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland seien so überlaufen, dass sie behandlungsbedürftige Kinder und Jugendliche nicht aufnehmen könnten: dem ist nicht so! Der Vergleich mit Corona-Intensivstationen – auch dort stand Triage kurzfristig im Raum – scheint gewollt: „Triage“ findet in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht statt!
Die DGKJP erklärt als wissenschaftliche Fachgesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zusammen mit der Stiftung Achtung!Kinderseele:
Zwar hat die Corona-Krise zweifelsohne psychische Belastungen und soziale Benachteiligungen bei Kindern verstärkt. Wir haben als wissenschaftliche Fachgesellschaft mehrfach verdeutlicht, dass gerade Kinder mit Vorbelastungen und solche, die sowieso schon benachteiligt sind, Symptome entwickeln. Symptome bedeuten aber noch keine manifesten Erkrankungen, auch wenn dies teilweise so in den Medien berichtet wird (Zeit online, 18.05.2021: „Kinder- und Jugendärzte sehen enorme psychiatrische Erkrankungen“). Vielfach haben wir es aber mit normalen Reaktionen von Kindern auf unnormale Bedingungen zu tun.
Allerdings sind Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen aktuell vermehrt Armutsbedingungen und Misshandlung ausgesetzt. Diese stellen klare Risikofaktoren für seelische Erkrankungen dar. Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, wie wichtig die kommunale Daseinsvorsorge in den Zeiten von Pandemie und Lockdown ist, und dass Jugendämter, Schulen, KiTas, offene Jugendarbeit, Notbetreuung ihre Funktionen weiter erfüllen müssen: hinschauen, Not erkennen, die Kinder auch zuhause besuchen. Etliche kreative Lösungen zeugen davon, dass das möglich ist. Allen pädagogischen Kräften und auch allen Kinderärzt*innen kommt hier eine wichtige präventive Funktion zu: dass kein Kind durch die Maschen fällt, wenn niemand seinen Hilfebedarf erkennt.
Dem gegenüber stehen Kinder, die durch Schulschließungen und Lockdown erheblich entlastet werden, nimmt man etwa Mobbing-Erfahrungen als gravierende Ursache für psychische Störungen, und die derzeit Behandlung gerade nicht suchen.
Lediglich regional schon lange bestehende Versorgungsdefizite in unserem Fachgebiet sind unter dem Brennglas der Pandemie und dem gestiegenen Beratungsbedarf verstärkt deutlich geworden – etwa über gestiegene Wartezeiten. Daran gilt es zeitnah und über die Grenzen der Versorgungsgebiete hinweg zu arbeiten.
Festzustellen bleibt:
- In der Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie gilt das Prinzip der Pflichtversorgung für die Kliniken. Das bedeutet: Jedes notfallmäßig und dringlich vorgestellte Kind aus dem zugehörigen Einzugsgebiet wird kinder- und jugendpsychiatrisch in jedem Einzelfall sofort versorgt. Je nach Befund wird dieses Kind entweder zur Krisenintervention oder auch längeren Behandlung direkt stationär aufgenommen. In anderen Fällen erfolgt dieses erst nach einer Wartezeit, diese fällt regional sehr unterschiedlich aus und liegt i.d.R. zwischen zwei und vier Monaten.
- Betrachtet man die verfügbaren Daten der DGKJP über stationäre Notaufnahmen, sprechen diese dafür, dass manchenorts eher eine größere Zurückhaltung vor stationären Behandlungen zu verzeichnen ist, und keine generelle Zunahme an Notfällen.
- Studien zur Entwicklung der Häufigkeit von kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen unter Pandemiebedingungen, die auf umfassender Diagnostik basieren, sind auf dem Weg.
- Es gilt das Prinzip „ambulant vor stationär“ – die ganz große Mehrheit der Kinder bleibt zur Behandlung zu Hause.
- Die Quote unbehandelter Kinder mit manifesten psychischen Störungen ist in den letzten Jahren gesunken und im Rahmen der aktuellen Pandemie nicht angestiegen; die Versorgungsaufgaben der Kliniken wurden und werden wahrgenommen. Wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt.
- Im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung wird bei entsprechender Notwendigkeit auch die Zusammenarbeit mit anderen Unterstützungssystemen koordiniert, etwa wenn auf beengtem Wohnraum ohne Schule „die Nerven blank liegen“.
- Krisenmanagement ist kinder- und jugendpsychiatrischer Alltag: rund um die Uhr und an sieben Tagen in der Woche. Inner- und außerhalb der Pandemie.
Alle kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken haben während der Pandemie durchweg alle Kinder und Jugendlichen, die eine akute Krise erlebt und schnelle Hilfe benötigt haben, selbstverständlich zu jeder Zeit versorgt. Wir haben uns an Masken in der Psychotherapie gewöhnt und an Online-Kontakte mit Patient*innen und Familien, so dass mehr Patient*innen erreicht werden können. Unser Fach trägt aktuell und auch zukünftig mit diversen Beratungsangeboten dazu bei, Kindern und Jugendlichen durch die psychisch belastende Pandemiezeit zu helfen. Skandalisierungen, wie von dpa verbreitet und in Artikeln in Süddeutscher, ZEIT und vielen anderen online-Journalen wiedergegeben, sind nicht sachlich und helfen niemandem. Und nicht zuletzt: Schulöffnungen alleine werden leider kinder- und jugendpsychiatrische Störungen nicht beheben.
Berlin, 19.05.2021