29|05|2020

Suizidbeihilfe

Stellungnahme zum BVerfGUrteil zu §217 StGB (Urteil des 2. Senats vom 26.2.2020, 2 BvR 2347/15)

 

Sehr geehrter Herr Minister Spahn,

wir bedanken uns für die Gelegenheit zur Stellungnahme zu diesem komplexen, viel diskutierten Thema vor dem Hintergrund des Bundesverfassungsgerichtsurteils.

Hierbei beziehen wir uns vor allem auf den 4. Leitsatz: „Der hohe Rang, den die Verfassung der Autonomie und dem Leben beimisst, ist grundsätzlich geeignet, deren effektiven präventiven Schutz auch mit Mitteln des Strafrechts zu rechtfertigen. Wenn die Rechtsordnung bestimmte, für die Autonomie gefährliche Formen der Suizidhilfe unter Strafe stellt, muss sie sicherstellen, dass trotz des Verbots im Einzelfall ein Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet bleibt.“

Sie zitieren das Bundesverfassungsgericht im Anschreiben dahingehend, dass das „umfassende Recht auf selbstbestimmtes Sterben [……] in jeder Phase der menschlichen Existenz“ gegeben sein solle. Wir stellen fest, dass im Urteil des BVerfG an keinem Punkt zur Situation von Kindern und Jugendlichen Stellung genommen wird. Auch war keiner der geladenen Experten Arzt für Kinder- und Jugendmedizin oder Arzt oder Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie.

Daher möchten wir uns als Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zur Problematik von Suizidbeihilfe bei Minderjährigen äußern.

Zu den Besonderheiten suizidalen Verhaltens im Jugendalter
Auch wenn die absoluten Suizidzahlen in der Altersgruppe der unter 18jährigen in Deutschland im Vergleich zu Erwachsenen mit etwa 220 Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden im Jahr eine vergleichsweise geringe Anzahl ausmacht, so ist dennoch Suizid die zweithäufigste Todesart im Jugendalter! Zudem finden sich in der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen besonders häufig Suizidgedanken und Suizidversuche. Große epidemiologische Studien sprechen von einer Lebenszeitprävalenz von 37 % der Jugendlichen in Deutschland, die zumindest einmal über Suizid nachgedacht haben, sowie Suizidversuche bei etwa 8 % (Donath et al. 2019). Gerade im Jugendalter findet sich daher eine Häufung von Suizidgedanken und Suizidversuchen, was auch als entwicklungstypisches Phänomen zu verstehen ist.

Dabei zeichnen sich Suizide und Suizidversuche im Jugendalter im Vergleich zum Erwachsenenalter durch eine deutlich höhere Impulsivität aus. Dies ist auch durch neurobiologische Reifungsprozesse bedingt. Die Hirnreifung befindet sich im Jugendalter noch in der Entwicklung und kann erst etwa um das 25. Lebensjahr als abgeschlossen gesehen werden. Gerade die frontalen und präfrontalen Areale, die eine suffiziente Impulskontrollsteuerung ermöglich, sind bei Jugendlichen entwicklungsbedingt noch nicht vollständig ausgereift (Gerber et al. 2009).

Vor diesem entwicklungs-neurobiologischen Hintergrund ist deswegen der selbstbestimmte Entschluss, eine weitreichende Entscheidung zu treffen, aufgrund der o. g. Entwicklungsprozesse und der erhöhten Impulshaftigkeit zu hinterfragen. Dieser Tatsache trägt man z. B. gesetzlich an anderer Stelle Rechnung, denn wenn Jugendliche Straftaten verüben, werden sie nach Jugendlichenstrafrecht bestraft.

Zu Todeswünschen Jugendlicher im Rahmen anderer psychischer Erkrankungen
Es ist festzustellen, dass 96 % der Jugendlichen, die durch Suizid verstarben, von einer psychiatrischen Krankheit betroffen waren (Nock et al. 2013). Wie körperliche Erkrankungen auch, sind psychische Erkrankungen behandelbar. Bei einer evidenzbasierten, fachgerechten Diagnostik und leitliniengerechter Behandlung einer psychiatrischen Erkrankung werden sekundär auch suizidale Absichten reduziert.

Die Phase, in der ein Jugendlicher Suizid als (besten) Ausweg aus seiner derzeit für ihn nicht aushaltbaren Situation sieht, ist vergleichsweise kurz. Stationäre Kriseninterventionen zur Behandlung akuter Suizidalität benötigen häufig nur wenige Tage, während die häufig zugrundeliegende psychische Störung noch längerer, meist ambulanter Therapie bedarf. Eine Langzeit Follow-up Studie konnte zeigen, dass 94 % derjenigen, die kurz vor einem Suizidversuch aufgehalten wurden, nach 26 Jahren noch lebten (Seiden, 1978). Betrachtet man aktuellen Modelle zur Suizidalität, wie die interpersonell psychologische Theorie nach Joiner (2005) oder das volitionale Modell nach O´Conner & Kirtley (2018), zeigt sich, dass zunächst ein längerfristiger Prozess der gedanklichen Beschäftigung über einen Suizid stattfindet, der durch diverse Risiko- als auch Resilienzfaktoren beeinflusst wird. Es wird dabei auch deutlich, dass statt einen Suizid geschehen zu lassen, verschiedenste wirkungsvolle Präventions-, Beratungs-, Unterstützungs- und Therapieangebote alternativ möglich sind, um dem jungen Menschen in emotionaler Not zu helfen.

Suffiziente Therapiemaßnahmen können sowohl das Suizidversuchsrisiko, wie auch die Wiederauftrittswahrscheinlichkeit von Suizidversuchen minimieren. Für das Kindes- und Jugendalter wird vor allem auf psychotherapeutische Methoden verwiesen (für einen aktuellen Überblick s.Iyengar 2018,), im Erwachsenenalter gibt es mittlerweile eine breitere Literatur zur Wirksamkeit auch von psychopharmakologischen Substanzen wie Ketamin, Lithium und Clozapin (De Berardis et al., 2018). Im Kindes- und Jugendalter gibt es in diesen Bereichen nur wenig Literatur, und es besteht ein deutliches Forschungsdesiderat im Bereich psychopharmakologischer Interventionen.

Zuletzt muss darauf hingewiesen werden, dass es möglich ist, Suizidgedanken und Suizidversuche durch präventive Maßnahmen zu beeinflussen. Auch unter Beteiligung einer deutschen Schulpopulation konnte in einer großen randomisierten, kontrollierten europaweiten Studie nachgewiesen werden, dass es möglich ist, mittels eines einfachen Schulprogrammes die Anzahl an Suizidgedanken, Suizidversuchen binnen eines Jahres auf die Hälfte zu reduzieren (SEYLE-Studie; Wassermann et al. 2015).

Im Falle zugrundeliegender psychischer Störungen, die mit einem Todeswunsch oder Suizidalität verbunden sind, ist generell festzuhalten, dass diese in den meisten Fällen gut zu behandeln sind und meist schon vor oder spätestens mit Remission der Grunderkrankung auch die Suizidalität in den Hintergrund tritt.

Zum Sonderfall von Todeswünschen bei Anorexia nervosa im Jugendalter
Die Anorexia nervosa und verwandte Essstörungen sind nach wie vor mit einer hohen Mortalität infolge diverser Komplikationen durch Unterernährung versehen. Diese Störungen bedürfen bisweilen in der Behandlung Zwangsmaßnahmen. Dies beruht darauf, dass eine Krankheitseinsicht störungsbedingt nicht gegeben ist und der Tod in Kauf genommen wird, was eine britische Arbeitsgruppe bereits vor fast 20 Jahren ausführlich untersucht hat (Tan et al. 2003 a, b). Insofern kann neben dem Altersaspekt auch nicht von einer „freien Willensentscheidung zum Sterben“ durch Hungern bei Patient*innen mit Anorexia nervosa ausgegangen werden, sondern es handelt sich um ein manifestes Krankheitssymptom. Wie problematisch in diesem Kontext von Kindern und Jugendlichen ohnehin Paradigmen wie freier Wille, informierte Zustimmung etc. sind, wurde ebenfalls mehrfach dargestellt (Tan & Fegert 2004, Tan & Koelch 2008, Kölch 2016). Auch wurde untersucht, dass z. B. Patient*innen mit Anorexia nervosa retrospektiv, obwohl sie ex ante einer Behandlung nicht zugestimmt hatten, Zwangsmaßnahmen in der Behandlung für angemessen hielten, wenn dies der Rettung ihres Lebens diente (Tan et al. 2010). Nach Hochrechnungen von Ward et al (2019) können unter Behandlung 75 % der Patienten von der Störung völlig genesen. Das schließt nicht aus, dass bei einer gegebenen Rückfallrate im Erwachsenenalter palliative Situationen eintreten können (Westermair et al 2020). Im Kindes- und Jugendalter lässt sich die Todesrate unter Behandlung nach der schwedischen Langzeitstudie von Dobrescu et al (2020) aber auch über 30 Jahre auf 0 % senken.

Zu Todeswünschen im Rahmen palliativer Situationen bei Kindern und Jugendlichen
Es sei zunächst auf Stellungnahmen der pädiatrischen Fachgesellschaften verwiesen. Aus Sicht unseres Fachgebietes wäre es aber essentiell, sollte der Gesetzgeber eine Freigabe für assistierten Suizid auch bei Minderjährigen erteilen, durch vorgeschaltete Gutachten eine behandelbare, komorbide psychiatrische Störung sicher auszuschließen. Ausdrücklich weisen wir darauf hin, dass die Prävalenz z. B. für Depressionen im Rahmen maligner Erkrankungen auch bei Kindern und Jugendlichen weltweit deutlich erhöht ist (Akimana et al. 2019), im Langzeitverlauf teilweise abhängig vom Erziehungsstil der Eltern (Ernst et al. 2020).

Zusammengefasst muss für das Kindes- und Jugendalter festgehalten werden:

Vor dem Hintergrund unserer Ausführungen sieht die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie die Population der unter 18jährigen auch aufgrund ihrer entwicklungsbiologischen Prädisposition zu impulshaften Handlungen mit einer guten Therapierbarkeit als besonders schützenswert vor einer Gesetzgebung zur Suizidbeihilfe an.

Wir empfehlen daher in einem Gesetzentwurf folgendes vorzusehen: 1. eine genaue Prüfung einer etwa eingeschränkten Selbstbestimmung, die Sicherstellung der Behandlung psychischer Störungen einschließlich einer Behandlung gegen den Willen gemäß Unterbringungsgesetzen der Länder bzw. gemäß § 1631b BGB. 2. Im Rahmen palliativer Situationen sollten behandelbare psychische Störungen durch eine kinder- und jugendpsychiatrische Begutachtung sicher ausgeschlossen bzw. im positiven Fall einer Behandlung zugeführt werden.

Autoren: Katja Becker, Michael Kölch, Paul Plener, Renate Schepker

Berlin, 29.05.2020

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