Die erste interdisziplinäre S3-Leitlinie zur evidenz-basierten Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen wurde veröffentlicht. Sie wurde federführend von Frau Prof. Dr. Christine M. Freitag vom Universitätsklinikum Frankfurt erarbeitet, die herausgebende Fachgesellschaft ist die DGKJP. Die Leitlinie bietet insbesondere Professionen des Sozial- und Gesundheitssystems eine systematische Übersicht empirisch untersuchter Verfahren sowie davon abgeleiteter Empfehlungen und kann somit als konkrete Handlungsempfehlung zur Therapie des komplexen Krankheitsbildes dienen. Der DGKJP ist es bei diesem kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbild besonders wichtig, dass evidenzbasierte, durch wissenschaftliche Studien abgesicherte Therapieverfahren für die Patient*innen und Familien verfügbar sind. Diese Therapie-Leitlinie komplettiert nun die bereits vorhandene S3-Leitlinie zur Diagnostik. Der Vorstand der DGKJP dankt Frau Prof. Freitag herzlich für die Erstellung!

Am 27. April 2021 wurde die AWMF-S3-Leitlinie zur evidenz-basierten Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen veröffentlicht. AWMF steht für die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Die Leitlinie ist in fünfjähriger Zusammenarbeit von Fachgesellschaften, Berufsverbänden und Patientenorganisationen unter Federführung von Prof. Christine M. Freitag, Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Frankfurt, entstanden. Der erste Teil der Leitlinie zur „Diagnostik“ ist erstmalig 2015 veröffentlicht worden und aktuell in Überarbeitung. Jetzt stellt der zweite Teil zur „Therapie“ zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum alle bis 2018 anhand kontrollierter oder randomisiert-kontrollierter Studien untersuchten Therapieansätze vor, die bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störung eingesetzt werden. Dies umfasst psychosoziale, medikamentöse und andere Interventionen.

Therapieziele im Fokus
Die AWMF-S3-Leitlinie wurde maßgeblich von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) vorangetrieben. „Da Autismus-Spektrum-Störungen komplexe, chronische Störungsbilder darstellen, ist die Leitlinie nach Therapiezielen geordnet“, erklärt Prof. Freitag, die auch dem Vorstand der DGKJP angehört. „Zu diesen Therapiezielen können gezielt die empfohlenen Interventionen für unterschiedliche Altersgruppen nachgelesen werden. Zudem wurde, wenn möglich und notwendig, auch eine Differenzierung hinsichtlich der kognitiven Fertigkeiten der Betroffenen mit Autismus-Spektrum-Störung vorgenommen, da dies die Einsatzmöglichkeiten der psychosozialen Interventionen beeinflusst.“

Entscheidungshilfen für alle Beteiligten
In den Leitlinien der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften finden sich systematisch entwickelte Entscheidungshilfen für Anwender und Betroffene. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und praxiserprobten Verfahren. Leitlinien sind ein wichtiges Instrument, um die Qualitätsentwicklung im Gesundheitswesen voranzutreiben. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften erfasst, prüft und publiziert die Leitlinien. „Die Leitlinie kann von medizinisch-therapeutischem Fachpersonal, aber auch von in Ämtern oder im Bereich der Justiz tätigen Personen, interessierten Betroffenen, Angehörigen und Laien hinsichtlich zahlreicher Fragen konsultiert werden“, so Prof. Freitag. Das vorrangige Ziel ist die Verbesserung der medizinischen Versorgung durch die Vermittlung von aktuellem Wissen, das systematisch recherchiert und kritisch bewertet wurde. Die Anwendbarkeit einer Leitlinie muss in jedem Fall individuell geprüft werden. In begründeten Fällen kann eine Abweichung von den Empfehlungen je nach Indikationsstellung, Präferenzen und partizipativer Entscheidungsfindung erforderlich sein.

Leitlinien der AWMF
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften ist der Dachverband der Fachgesellschaften der Medizin. Die Arbeitsgemeinschaft berät und unterstützt die Fachgesellschaften und koordiniert seit 1995 die Entwicklung ihrer medizinischen Leitlinien. Nach ihrem System werden Leitlinien in vier Entwicklungsstufen eingeteilt und klassifiziert. Die S3-Leitlinie, deren Prozess sich auch die Leitlinie „Autismus-Spektrum-Störungen“ unterzogen hat, ist die aufwendigste und höchste Qualitätsstufe der Entwicklungsmethodik. Das bedeutet, dass die Leitlinie alle Stufen der systematischen Entwicklung durchlaufen hat: Sie wurde von einem repräsentativen Gremium erstellt, die Aussagen beruhen auf einer systematischen Analyse der vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz und sie wurde im Rahmen einer strukturierten Konsensfindung des Gremiums verabschiedet.

Publikation:
https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-047.html

Für weitere Informationen:
Prof. Christine M. Freitag
Direktorin
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Universitätsklinikum Frankfurt
Telefon +49 69 63 01 – 54 08
E-Mail:
Internet: www.kgu.de

Berlin, 07.05.2021

Fachverbände und Kammern definieren Standards für Unterbringungen und für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen

Die Vertreter*innen juristischer, psychologischer, medizinischer und (sozial)pädagogischer Fachverbände, der Bundesrechtsanwalts- und der Bundespsychotherapeutenkammer haben sich auf ‚Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten nach § 1631b BGB (und zur freiheitsentziehenden Unterbringung nach den Landesgesetzen über die Unterbringung psychisch Kranker)‘ geeinigt.

Festhalten, Fixieren oder Sedieren des Kindes, der Einsatz von Bettgittern oder die Isolierung in sogenannten „Beruhigungsräumen“ – das alles gilt als freiheitsentziehende Maßnahme und greift tief in die Grundrechte der Kinder ein. Lange reichte die Zustimmung der Eltern aus, damit solche Maßnahmen in einem Krankenhaus, Heim oder einer sonstigen Einrichtung zum Einsatz kamen. Die Einrichtungen holten sich oft durch Standardformulierung in den Verträgen eine Generalvollmacht. Seit dem 1. Oktober 2017 gilt das „Gesetz zur Einführung eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehaltes für freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM) bei Kindern“. Seitdem müssen solche Maßnahmen vom Familiengericht genehmigt werden, ebenso wie bisher schon die Unterbringung. Vor seiner Entscheidung muss das Gericht ein Gutachten oder – etwa im Eilfall – ein ärztliches Zeugnis einholen. In der Praxis war häufig unklar, wer diese erstellt und nach welchen Standards.

In den vergangenen Monaten erarbeiteten nun Expert*innen unter fachlicher Begleitung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) und unterstützt durch den XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes fachübergreifende Qualitätsstandards. Die Landesjustizministerien waren eingebunden und wirkten – zum Teil – fachlich begleitend mit. Die Empfehlungen dienen der Ergänzung der Mindestanforderungen an Gutachten in Kindschaftssachen. Die erarbeiteten Qualitätsstandards sollen allen Verfahrensbeteiligten eine Orientierungshilfe bieten.

Beteiligte Fachverbände und Kammern sind: Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BAG KJPP), Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP), Berufsverband für Beratung, Pädagogik & Psychotherapie (BVPPT), Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), Deutscher Anwaltverein (DAV), Der Deutsche Familiengerichtstag (DFGT), Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs), Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF), Deutsche Jugendinstitut (DJI), Deutscher Juristinnenbund (djb), Deutscher Richterbund (DRB), Fachverband Systemisch-Lösungsorientierter Sachverständiger im Familienrecht (FSLS), Neue Richtervereinigung (NRV), Wissenschaftliche Vereinigung für Familienrecht.

Berlin, 31.03.2021

 

S3-Leitlinie Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen | Lebende Leitlinie
Kurzfassung

Die COVID-19-Pandemie stellt für Schulen eine große Herausforderung dar. Trotz Unsicherheiten über die Wirkung von Maßnahmen müssen dort weitreichende Entscheidungen getroffen werden. Um in dieser Situation wissenschaftlich fundierte und konsentierte Handlungsempfehlungen anbieten zu können, wurde von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) eine Kurzversion der S3-Leitlinie zu „Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen“ veröffentlicht.

Erarbeitet wurde sie von einer repräsentativen Gruppe von Wissenschaftler*innen, am Schulgeschehen Beteiligten und Entscheidungsträger*innen aus Fachgesellschaften, Verbänden und Organisationen.

Die Empfehlungen
Entscheidend sind nicht die Einzelmaßnahmen, sondern die aufeinander abgestimmte Umsetzung in Maßnahmenpaketen. Ausgangspunkt ist ein Standard-Maßnahmenpaket, das sich an den allgemein in der Bevölkerung geltenden AHA+L Regeln orientiert und das konkret Abstand, Hygiene, das Tragen einer angemessenen Maske und Lüften vorsieht.
Die Empfehlungen umfassen neun Fragestellungen: Reduktion der Schüler*innenzahl im Präsenzunterricht, Tragen von Masken in Schulen, Infektionsschutz auf Schulwegen, Musik- und Sportunterricht, Umgang mit Verdachtsfällen und Quarantäne in den Klassen, Lüften in Schulen und Luftreinigung in Unterrichtsräumen. Schulschließungen wurde nicht behandelt.

Die Evidenz
Die Empfehlungen beruhen auf einer Gesamtschau der aktuell verfügbaren Studien zur Wirksamkeit der entsprechenden Maßnahmen. Allerdings sind dies zum größten Teil Modellierungsstudien, deren Ergebnisse nur eingeschränkt in den Schulalltag übertragbar sind. Neben dem Blick auf die gesundheitlichen Wirkungen von Maßnahmen wurden auch Kriterien zu Akzeptanz und gesundheitlicher Chancengleichheit, zu sozialen und ökologischen Folgen aber auch finanziellen und wirtschaftlichen Auswirkungen und letztlich auch Machbarkeit berücksichtigt. Dieser umfassende Blick ermöglicht eine weitreichende Abwägung von Nutzen und Schaden aller Maßnahmen, Einschränkungen der Grundrechte wurden ebenfalls betrachtet.

Um sowohl die Wirksamkeit als auch unerwünschte Folgen der Maßnahmen zu erfassen muss die Umsetzung wissenschaftlich begleitet werden. Dies trägt nicht nur dazu bei, die Evidenzlage stetig zu verbessern, sondern ermöglicht auch Kurskorrekturen.

Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie während und nach der Pandemie

 

Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen müssen auch während der Restriktionen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Zugang zu Diagnostik, Therapie und psychosozialen Hilfen erhalten. Weiterhin müssen besonders gefährdete und benachteiligte Kinder und Jugendliche identifiziert werden, um die Entwicklung psychischer Störungen verhindern zu können.

Viele – jedoch nicht alle – Kinder und Jugendliche erleben die Veränderungen und Folgen der Pandemie emotional belastend. Es ist aktuell noch ungeklärt, inwieweit hieraus zusätzliche behandlungsbedürftige psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen entstehen. Erste Studien weisen darauf hin, dass insbesondere Kinder mit bestehenden psychischen Störungen und Kinder in schwierigen psychosozialen Situationen unter der Pandemie leiden.

Wohingegen kurzdauernde Lockdown-Maßnahmen sich nicht nachhaltig negativ auf die psychische Gesundheit auswirken, besteht infolge des nun bestehenden Erfordernisses für langandauernde Restriktionen eine besondere Gefährdung für Kinder und Jugendliche. Belastungsfaktoren können bestehen in der sozialen Isolation von Gleichaltrigen, der Reduktion von körperlicher Aktivität, oder in häuslichen Konflikten. Faktoren, die das generelle Risiko für das Auftreten einer psychischen Störung erhöhen sind Armut und Bildungsferne der Eltern, bestehende psychische Erkrankungen der Eltern, negative Kindheitserfahrungen wie Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch sowie schulische Überforderung und Mobbingerfahrungen. Letztere sind in der Pandemie insbesondere mit Blick auf Cybermobbing in den sozialen Medien zu beachten. Eingeschränkte Unterstützungsangebote für sozial schwächere Familien und beengte Wohnsituationen können zu anhaltenden Spannungen führen. Ist die Inanspruchnahme von Freizeit-, Betreuungs-, Beratungs- und anderen Unterstützungsmaßnahmen für derart vorbelastete Kinder und Jugendliche pandemiebedingt eingeschränkt, können sich psychische Störungen eher entwickeln oder weiter verschlechtern.

Die Bedingungen der Pandemiemaßnahmen erfordern somit für einzelne Risikogruppen besondere Unterstützung. Aktuell ist davon auszugehen, dass Familien Unterstützungsangebote nur verzögert in Anspruch nehmen. Rechtzeitige Diagnostik, ambulante, teilstationäre und stationäre Behandlungsangebote, der Einsatz von Telefon- und Videosprechstunden, Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und begleitetes Homeschooling sind wichtige Elemente der Versorgung und haben für Bedürftige und ihre Familien auch während der Pandemie hohe Priorität.

Alle jungen Menschen können im Umgang mit dem Lockdown unterstützt werden: Feste Tagesstrukturen geben Orientierung. Regelmäßige Treffen mit den definierten Kontaktpersonen (soweit zulässig) sowie Onlinetreffen mit Freunden und Familienangehörigen helfen den Alltag neu zu strukturieren. Auf ausreichend Bewegung an der frischen Luft ist zu achten. Vielen Familien gelingt es, die Zeit mit Spielen, Backen, Basteln gemeinsam zu gestalten. Kinder und Jugendliche stellen Fragen zur Pandemie, zu Krankheit und Tod, ehrliche und transparente Antworten sind hier wichtig und verkraftbar.

Hinweise und Tipps, die Eltern und Kindern in Zeiten der Pandemie helfen können, finden Sie z.B. in Hilfreiche Tipps für Eltern zu Stressprävention in Zeiten des Corona-Virus, Beratung von Familien in Zeiten des pandemiebedingten Ausnahmezustands und unter Corona und Du, ein Infoportal darüber, wie man psychische Belastungen reduzieren kann.

Bedürftige Schüler*innen benötigen seitens der Schule oder Kommune eine entsprechende Hardwareausstattung. Insbesondere zur Aufrechterhaltung des Kinderschutzes ist Onlinekommunikation nötig, wenn persönliche Kontakte und aufsuchende Hilfen infolge der Restriktionen nur noch bedingt möglich sind.

Schon heute muss der Umgang mit der Situation in Zukunft in den Blick genommen werden. Nur so lassen sich mögliche Auswirkungen der Pandemie auf betroffene Kinder, Jugendliche und ihre Familien geringhalten. Häufig wird bei der Bewertung der präventiven Corona-Maßnahmen vergessen: Das Erleben von vielen Todesfällen erhöht die Wahrscheinlichkeit für eine posttraumatische Belastungsstörung. Es bedarf einer Strategie, wie mit diesen und anderen verbundenen Pandemiefolgen umzugehen ist. Hierzu ist kinder- und jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Kompetenz und wissenschaftliche Expertise nötig. Leistungen müssen aus unterschiedlichen Bereichen wie der Medizin, der Kinder- und Jugendhilfe, Suchtberatung und -behandlung und Frühen Hilfen erfolgen.

Die DGKJP setzt sich besonders für jene junge Menschen ein, die an ihren Entwicklungsaufgaben zu scheitern drohen, um ihre zukünftige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu stärken. Hierfür engagiert sich die DGKJP gegenüber der Politik und bringt sich durch Stellungnahmen und Beratung zu Fragen der Pandemie ein.

Kontakt
DGKJP e.V.
Reinhardstraße 27B
10177 Berlin
E

Stellungnahme der DGKJP zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung
(Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz – GVWG)

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

haben Sie vielen Dank für die Übermittlung des obigen Referentenentwurfs.
Einige Intentionen des Gesetzes, wie die Möglichkeit der Berücksichtigung von unterhaltsberechtigten nicht gemeinsamen Kindern in den Versichertenbeiträgen und die selbstverständliche Übernahme von Leistungen für intersexuelle Schwangere und Mütter begrüßen wir im Rahmen der familienfreundlichen Ausgestaltung, die allen Gesetzen und Verordnungen innewohnen sollte. Insbesondere begrüßen wir die geplante Rahmenvereinbarung für ambulante Kinderhospize.

Wir begrüßen ebenso die Weiterförderung der Akademisierung von Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie.

Im Gesetz gibt es darüber hinaus auch Passagen, zu denen die DGKJP als wissenschaftliche Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie aus ihrer Fachlichkeit heraus Stellung beziehen möchte. 

Zu § 75 SGB V
Absatz 1 a), Ergänzung Satz 3:

Erhebliche Bedenken haben wir gegenüber einer telefonischen Ersteinschätzung bei psychiatrischen Notfällen von Kindern und Jugendlichen. Hier ist es in aller Regel erforderlich, sowohl das Kind als auch seine Bezugspersonen – mindestens mit Videointeraktion – sehen zu können. Eine telefonische Ersteinschätzung bietet dem/der Kinder- und Jugendpsychiater*in bei Kindern und Jugendlichen, die sich verweigern oder verbal nicht differenziert ausdrücken können, zu wenig verlässliche Befundgrundlagen.
Die DGKJP ist besorgt, dass infolge dieses Abschnitts die Kassenärztlichen Vereinigungen sich nicht mehr verpflichtet sähen, bei der derzeitigen Mangelversorgung weiterhin mit aller Kraft auch in unserem Fachgebiet für die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung einzutreten.

Absatz 1 a), Ergänzung Satz 4:
Demgegenüber begrüßen wir die Regelung in § 75 SGB V, dass nach Ersteinschätzung im Krankenhaus für eine fachärztliche Weiterbehandlung keine Überweisung mehr erforderlich sein soll. Es sei darauf hingewiesen, dass es aktuell mangels der Möglichkeit eines flächendeckenden fachspezifischen Notfalldienstes durch die Vertragsärzte die Notdienste der kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken einschließlich der kinder- und jugendpsychiatrischen Institutsambulanzen sind, welche den größten Teil kinder- und jugendpsychiatrischer Notfälle behandeln, an Wochenend- und Feiertagen nahezu alle. In der Regel erfolgt eine probate Indikationsstellung zur fachärztlichen Weiterbehandlung. Darüber hinaus wären allerdings verbindliche Terminvergaben durch die Servicestellen – die leider in unserem Fachgebiet oft überfordert sind – bei Vertragsärzten wünschenswert. Besonders beklagenswert ist, dass in Einzelfällen seitens der Terminservicestellen mangels fachärztlicher Termine wiederum an psychiatrische Institutsambulanzen verwiesen wird, die Behandlung dort dann aber durch die Kostenträger in Frage gestellt wird, wenn die Einschlusskriterien für eine PIA-Behandlung nicht als erfüllt angesehen werden, z.B. hinsichtlich der Dauer der Erkrankung.

Zu § 118 (2):
„Die Vereinbarung nach Satz 2 ist spätestens innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 Absatz 6b zu überprüfen und an die Festlegungen der Richtlinie dahingehend anzupassen, dass den Einrichtungen nach Satz 1 auch die Teilnahme an der Versorgung nach § 92 Absatz 6b ermöglicht wird.“

Noch deutlicher auf Seite 51 RefE: „Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztliche Bundesvereinigung werden verpflichtet, den Vertrag nach § 118 Absatz 2 Satz 2 SGB V und die Vereinbarung nach § 118 Absatz 3 SGB V zu den psychiatrischen und psychosomatischen Institutsambulanzen an die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu einer berufsgruppenübergreifenden, koordinierten und strukturierten Versorgung psychisch Kranker anzupassen, um den psychiatrischen und psychosomatischen Institutsambulanzen – neben der Erfüllung ihrer bisherigen Aufgaben – auch eine sachgerechte Teilnahme an diesem Versorgungsbereich zu ermöglichen.“

Hierzu gibt es keine Klarstellung des Gesetzgebers, ob mit der „berufsgruppenübergreifenden, koordinierten und strukturierten Versorgung psychisch Kranker“ nicht per se das gesamte Tätigkeitsspektrum einer kinder- und jugendpsychiatrischen Institutsambulanz bereits umfasst ist. Fast alle PIA-Fälle benötigen eine multiprofessionelle Diagnostik und Behandlung, die durch die PIA-Leitung koordiniert wird, ebenfalls Leistungen aus anderen SGB-Bereichen.

Auch wenn laut den Ausführungen des RefE auf S. 65 keine wesentliche Kostenwirksamkeit erwartet wird, muss vor einer missverständlichen Interpretation dieses Absatzes gewarnt werden. Zumal die Formulierung in § 120 (2) Satz 7 SGBV, die mit dem Psychotherapeutenausbildungsreformgesetz eingeführt wurde, nicht gleichzeitig verändert und damit nicht unsere berechtigte Befürchtung geheilt wird, die künftige Finanzierung aller Tätigkeiten der PIAs solle über den EBM erfolgen. Da die Interpretation an den G-BA delegiert wird, halten wir eine gesetzgeberische Klarstellung nach wie vor für erforderlich. Weder den Stellungnahmen der Fachverbände noch den Empfehlungen der Bundesratsdrucksache 505/1/19 ist das Bundesgesundheitsministerium diesbezüglich bisher gefolgt.

Nach wie vor lautet der § 120 (2) SGB V, Satz 7: „Die Vergütung der Leistungen der psychiatrischen Institutsambulanzen soll der Vergütung entsprechen, die sich aus der Anpassung des einheitlichen Bewertungsmaßstabes für ärztliche Leistungen nach § 87 Absatz 2a Satz 26 ergibt.“

Lösungsvorschlag:
Klarstellend wäre aus unserer Sicht, wie in unserer damaligen Stellungnahme zum Psychotherapeutenausbildungsreformgesetz gefordert, den neuen Satz 7 in § 120 (2) wieder ganz zu streichen. Er ist, wie alle Diskussionen im Umfeld des damaligen Gesetzgebungsverfahrens gezeigt haben, hochgradig irreführend und konkurriert überdies mit dem Prüfauftrag in § 17d KHG.
Hilfsweise wäre folgende Einfügung in § 120 (2) SGBV vorzusehen: Die Vergütung der Leistungen der psychiatrischen Institutsambulanzen für Koordinationsleistungen nach § 92 Absatz 6b soll der Vergütung entsprechen, die sich aus der Anpassung des einheitlichen Bewertungsmaßstabes für ärztliche Leistungen nach § 87 Absatz 2a Satz 26 ergibt.“.

Zu § 120 (3b):
Hier wird eine neue „Abrechnungsvoraussetzung der Leistungen von Notfallambulanzen der Krankenhäuser“ eingeführt, ohne dass die PIAs ausgenommen sind.

Wir machen darauf aufmerksam, dass die PIAs sich einer „standardisierten Ersteinschätzung des ambulanten medizinischen Versorgungsbedarfs von Hilfesuchenden, die sich an Notfallambulanzen der Krankenhäuser wenden“ weitgehend entziehen. Ob es sich bei einer Notfallvorstellung um eine Intoxikation, eine suizidale Krise oder eine psychotische Exazerbation handelt, bedarf sehr unterschiedlicher Zugänge. Keinesfalls darf eine notfallmäßige Vorstellung und Abrechenbarkeit in einer PIA von dieser Vorgabe abhängig gemacht werden, da in aller Regel eine ausführliche psychiatrische Befunderhebung und Anamnese durchgeführt werden muss, um eine korrekte Diagnose und Weiterbehandlungsindikation zu treffen.
Nachweise zur Durchführung der Ersteinschätzung müssten für den psychiatrischen und kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich getrennt erstellt werden.

Wir möchten ferner darauf hinweisen, dass in unserem Fachgebiet rund Hälfte aller stationären Aufnahmen notfallmäßig erfolgt. Noch mehr Patient*innen werden nicht stationär, sondern ausschließlich nach Notfallvorstellung ambulant versorgt. Diese Vorstellungen nicht als PIA-Leistung vergütet zu bekommen, da ein somatischer Bogen nicht aussagekräftig ist, wäre nicht sachgerecht.

Lösungsvorschlag:
Einfügung eines Satzes: „Notfallmäßige Vorstellungen in Psychiatrischen Institutsambulanzen nach § 118 SGB V sind von dieser Regelung ausgenommen“.

Für Rückfragen stehen wir Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. med. M. Kölch
Präsident der DGKJP