E-Zigaretten erhöhen Einstiegsrisiko bei Jugendlichen für Zigaretten-Rauchen.
Umfassendes Werbeverbot für E-Zigaretten und für alle Tabakprodukte notwendig.

 

E-Zigaretten sind für Kinder und Jugendliche besonders gefährlich. Mit der E-Zigarette werden nach Auffassung der deutschen Kinder- und Jugendpsychiater die großen Erfolge der Tabakprävention der letzten Jahre unterlaufen und in ihr Gegenteil verkehrt. Das von der Bundesregierung geplante Tabakwerbeverbot muss zum Schutz von Kindern und Jugendlichen daher auch für E-Zigaretten gelten.

Es gibt weiter einen Rückgang des Tabakkonsums bei Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen, aber wir erkennen bei den E-Zigaretten einen klaren Aufwärtstrend bei Jugendlichen (1, 2). Um das Risiko dieser Entwicklung zu verstehen, müssen die Besonderheiten der jungen Altersgruppe berücksichtigt werden: Während E-Zigaretten manche Erwachsene gegebenenfalls dabei unterstützen können, zeitweise auf Tabakprodukte zu verzichten, erhöhen sie für Kinder und Jugendliche das Einstiegsrisiko für das Rauchen von Tabakzigaretten. So experimentieren junge Nie-Raucher häufiger mit konventionellen Zigaretten, wenn sie zuvor E-Zigaretten konsumiert haben (3). Dieser Einfluss fällt vor allem in der Gruppe derjenigen Jugendlichen auf, die an sich ein generell niedrigeres Risiko haben, überhaupt mit dem Rauchen zu beginnen (4).

Die Art der Werbung für E-Zigaretten spricht junge Menschen besonders an. Jugendliche werden durch die Aufmachung der Werbung, „trendige“ Produkte mit puristischem Design und den aromatischen Geschmack zum Konsum animiert. Werbung für E-Zigaretten führt bei Jugendlichen nachweislich auch zu mehr Konsum von E-Zigaretten (5-7). E-Zigaretten verharmlosen Gefahren des Nikotinkonsums, indem sie Warnsignale herkömmlicher Zigaretten (bitterer Geschmack, Rauch) überstrahlen oder unterdrücken. Die habituelle Verknüpfung vermeintlich „cleaner“ Produkte mit modernem Lifestyle und Werten wie Gesundheit, Gemeinschaftserleben und Leistungsfähigkeit muss als besonders gefährlich angesehen werden. Für Jugendliche sind E-Zigaretten aber eben nicht harmlose Lifestyle-Produkte und auch nicht die „beste Alternative zur Zigarette“. Die von den Herstellern propagierte Botschaft von der „rauchfreien Zukunft“, gekoppelt mit neuen Produkten und intensiver Werbung, gefährdet die Erfolge der Tabakprävention der letzten Jahre. Innovative Prävention muss über dieses Zerrbild des „gesunden Rauchens“ aufklären.

In den USA hat die Zahl Minderjähriger, die E-Zigaretten nutzen, bereits dramatisch zugenommen. Neben diesem Trend lösen in den letzten Monaten Berichte aus den USA über Gesundheitsschäden und Todesfälle nach dem Konsum von E-Zigaretten große Besorgnis aus.

Die Suchtkommission der deutschen kinder- und jugendpsychiatrischen Verbände und wissenschaftlichen Fachgesellschaft spricht sich für ein striktes und umfassendes Werbeverbot für E-Zigaretten und für alle Tabakprodukte aus und plädiert für wirksame Maßnahmen zur Durchsetzung des Jugendschutzgesetzes sowie für eine unabhängige Erforschung der Risiken der E-Zigaretten.

Literatur:

Die benannte Literatur finden Sie im Dokument Positionspapier E-Zigarette.

Erstellt durch die Suchtkommission der deutschen kinder- und jugendpsychiatrischen Verbände und wissenschaftlichen Fachgesellschaft (BAG KJPP, BKJPP, DGKJP):

Herr Prof. Dr. Rainer Thomasius, Vorsitz (DGKJP)
Herr Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann (DGKJP)
Herr Dr. Peter Melchers (BAG)
Frau Dr. Marianne Klein (BAG)
Frau Dr. Gisela Schimansky (BKJPP)
Herr Thomas Krömer (BKJPP)
Herr PD Dr. Olaf Reis (assoziiertes Mitglied)

Stellungnahme zum Referentenentwurf der Approbationsordnung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (PsychTh-ApprO)

Die DGKJP begrüßt es, dass das BMG einen Referentenentwurf der Approbationsordnung vorlegt, die es erlaubt, konkreter die Planungen für die Ausgestaltung des neuen Studiengangs „Psychotherapie“ vorzunehmen.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass in dem Referentenentwurf versucht wurde, eine Balance herzustellen zwischen der Definition von ausreichenden Qualifizierungsmerkmalen, die für die Ausübung eines Heilberufs notwendig sind und andererseits auch der Wissenschaftlichkeit, die von einem Studiengang mit Masterabschluss erwartet werden kann. Ebenfalls begrüßen wir es, dass als Ziel der Neuregelung explizit die altersgruppenübergreifende Qualifizierung benannt wird, was bedeutet, dass zukünftig alle Studierenden auch die Diagnostik und Behandlung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen während der Berufsqualifizierenden Tätigkeit III praktisch kennenlernen.

Wir möchten aber zu bedenken geben, dass durch den Zeitdruck, im WS 20/21 mit einem komplett neuen Studiengang starten zu wollen, die Gefahr besteht, dass die notwendige vertiefte Diskussion über Inhalte des Psychotherapiestudiums nicht adäquat geführt werden kann. Im Vergleich wird in der Medizin eine umfangreiche langanhaltende Diskussion um „kompetenzbasierte Lernziele“ als Grundlage der Approbationsordnung geführt, in welche alle Fächer intensiv einbezogen werden. Wir möchten deshalb anregen, dass auch für das neue Approbationsstudium „Psychotherapie“ eine Diskussion unter Einbezug aller beteiligten Fächer geführt wird, die die vielschichtigen Qualifikationsmerkale von Psychotherapeuten sicherstellt und zukünftig eine dynamische Weiterentwicklung des Faches gewährleistet.

Wir sehen insbesondere noch Nachbesserungs- und Spezifizierungsbedarf in den folgenden Bereichen:Klarere Definition von kinderspezifischen Qualifizierungsmerkmalen: Aus Sicht derjenigen Verbände, die auch zukünftig für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen die Verantwortung tragen, sind wir besorgt darüber, wie wenig altersbezogene Qualifikationsmerkmale der zukünftigen Psychotherapeuten spezifiziert werden. Abgesehen davon, dass erst in der fallbezogenen Lehre im Master-Studienabschnitt auch die Vermittlung von Wissen über psychotherapeutische Behandlungsformen nach Zielgruppen (Kinder und Jugendliche) genannt wird und nur in der berufsqualifizierenden Tätigkeit III 5 ECTS im Kinder- und Jugendbereich zu absolvieren sind, sind in der Approbationsordnung die Qualifizierungsmerkmale von Psychotherapeut*innen des Kindes- und Jugendalters zu wenig repräsentiert. Wir fordern, dass diese Zeitanteile entsprechend der demographischen Verteilung bestimmt werden, 20-30 % aller Studieninhalte müssten sich mit der spezifischen Untersuchungs- und Behandlungstechnik bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen sowie mit Familiendynamik, Einbeziehung von Bezugspersonen, und Versorgungssystemen für das Kindes- und Jugendalter.

  • Vermittlung von medizinischen und pädagogischen Grundlagen: Insgesamt ist die Vermittlung von Basiswissen in Medizin und Pädagogik stark unterrepräsentiert und mit 82 (Psychologie): 4 (Medizin): 4 (Pädagogik) ECTs unverhältnismäßig verschoben zu Gunsten einer Vermittlung von psychologischem Wissen. Diese Verteilung ist angesichts des Ziels, ein eigenständiges Studium für „Psychotherapie“ (und nicht für „psychologische Psychotherapie“) zu etablieren, in welches verschiedene Wissenschaften gleichermaßen einfließen, nicht nachvollziehbar. Es sollte eine stärkere Vermittlung von pädagogischen und medizinischen Grundlagen, auch bereits im Bachelor-Studiengang erfolgen. Dazu gehören letztlich auch erwachsenenpädagogische Ansätze, v.a. auch für diejenigen Studierenden, die sich entscheiden, nicht in ein Masterstudium überzugehen. Medizinische Grundlagen sind stärker zu gewichten, mit mindestens acht anstelle von vier ECTs. Neben den aufgelisteten Themen im Bereich Medizin müssten die Fächer Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigenständige ärztliche Fachgebiete unbedingt mit einem eigenen Schwerpunkt und separaten ECTS bedacht werden. Wir fordern einen Lehranteil für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ -psychosomatik von mindestens 2 ECTs.
  • Präzisierung der Ziele des Approbationsstudiums: Wir halten die Formulierung auf Seite 1 für missverständlich: Hier steht im ersten Abschnitt A. „Problem und Ziel“: „an die Stelle der bisherigen postgradualen Ausbildung tritt ein Studium, das zur Erteilung der Approbation als Psychotherapeutin oder Psychotherapeut führt, …“ Es sollte heißen: „… an die Stelle der bisherigen postgradualen Ausbildung tritt eine postgraduale Weiterbildung. Anstelle der Studiengänge, die bisher Voraussetzung für die Zulassung zur postgradualen Ausbildung waren (Psychologie für psychologische Psychotherapeuten und Psychologie/ Pädagogik/ Sozialpädagogik für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten) tritt ein Studium, das zur Erteilung der Approbation als Psychotherapeutin oder Psychotherapeut führt und Voraussetzung zum Zugang zur vertieften verfahrensspezifischen postgradualen Weiterbildung ist.
  • Analoge Qualifizierung in diagnostischen und in psychotherapeutischen Kompetenzen: Bei den „Zu erwerbende Kompetenzen im Masterstudiengang, Seite 57 ff., ist darauf zu achten, dass mindestens so viele ECTs im Bereich für angewandte Psychotherapie (momentan 5 ECTs) wie für Diagnostik (momentan 7 ECTs) vorgesehen sind. Wir schlagen eine Gleichverteilung von jeweils 6 ECTs vor.
  • Verlängerung der berufsqualifizierenden Tätigkeitszeiten: Die im Referentenentwurf vorgeschlagene Verlängerung der Studiendauer um drei Monate über die Regelstudienzeit für Masterstudiengänge hinaus, um die Zeitspanne für die Approbationsprüfung zu berücksichtigen, könnte optimal für eine Ausweitung der berufsqualifizierenden Tätigkeitszeiten genutzt werden. Diese halten wir mit insgesamt 840h immer noch für unzureichend. Die Spezifizierung der Forschungspraktikumszeiten (von insgesamt 330h) sind zwar zur Sicherstellung der Psychotherapieforschung sehr wünschenswert, tragen aber nur geringfügig zur konkreten Qualifizierung in der Ausübung einer heilkundlichen Tätigkeit bei.
  • Klarerer Verfahrensbezug: Insgesamt ist der Teil der berufspraktischen Anwendungen und auch der Theorie „verfahrensneutral“ beschrieben. Da aber das Studium einen Einblick in die wissenschaftlich gesicherten und sozialrechtlich anerkannten Verfahren geben soll, ist dies auch in der Approbationsordnung sicherzustellen. Es ist deshalb die Vermittlung von Grundlagen aller verschiedenen verfahrensspezifischen Kenntnisse und Kompetenzen aufzunehmen. Dabei können unterschiedliche Studiengänge zwar Schwerpunkte bilden, jedoch sollten theoretischer Bezug, therapeutische Basiskompetenzen, Störungsmodelle und psychotherapeutische Methoden aller anerkannten Verfahren gelehrt werden. Zu ergänzen ist daher auf folgenden Seiten:

– S. 15 unter Die berufsqualifizierende Tätigkeit III – angewandte Praxis der Psychotherapie (Masterstudium) … heißt es: (2) „Hierzu sind sie an der Diagnostik und der Behandlung von Patientinnen und Patienten unter Anwendung von mindestens drei anerkannten psychotherapeutischen Verfahren und Methoden zu beteiligen indem sie “

– Und folgend: „Anamnesen und psychodiagnostische Untersuchungen unter Anleitung … bei mindestens zehn Patientinnen und Patienten verschiedener Altersgruppen aus mindestens vier verschiedenen Störungsbereichen unter Anwendung von mindestens in drei anerkannten Verfahren angewandten Methoden.“

– Seite 16: 3. müsste heißen: „an mindestens zwei weiteren einzelpsychotherapeutischen Patientenbehandlungen …, mit unterschiedlichen Indikationsstellungen und unterschiedlichen Verfahrensansätzen …“

– Seite 58 – angewandte Psychotherapie, erster Punkt: Die „Behandlungsplanung gemäß den unterschiedlichen Behandlungssettings“. Die verschiedenen Settings sind wichtig, jedoch unterscheiden sich die Behandlungsplanungen im Zusammenhang mit verschiedenen Verfahren noch erheblicher, so dass es heißen müsste, „…, Behandlungsplanung auch gemäß verschiedener Verfahrensansätze zu konzipieren und je nach Setting mit anderen Berufsgruppen kooperieren zu können“.

– Seite 60 f. unterster Abschnitt zur berufsqualifizierenden Tätigkeit 2, 6. Unterpunkt (auf Seite 61) „Patientinnen und Patienten das Behandlungsrational unterschiedlicher psychotherapeutischer Behandlungsmethoden zu vermitteln“ sollte umformuliert werden: … Patientinnen und Patienten das Behandlungsrational der unterschiedlichen psychotherapeutischen Behandlungsverfahren und ihrer Methoden zu vermitteln.

Berlin, 12.11.2019

APPELL
Exklusion beenden: Kinder‐ und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien!

Deutschland feiert aktuell zehn‐jähriges Jubiläum des Inkrafttretens der menschenrechtlichen Verpflichtungen aus der UN‐Behindertenrechtskonvention.Wie viel Grund zu feiern es gibt, variiert nach Lebensbereichen wie auch jeweiliger Perspektive. Mit der Reform durch das Bundesteilhabegesetz in der letzten Legislaturperiode wollte der Gesetzgeber die Rechte von Menschen mit Behinderungen weiter stärken. In diesem Prozess ausdrücklich ausgenommen war die Hilfeperspektive von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Die Aufhebung der in Deutschland nach wie vor bestehenden und seit Jahrzehnten kritisierten Aufteilung von Kindern und Jugendlichen in unterschiedliche Zuständigkeiten je nach Behinderungsform
sollte einem eigenen Reformprozess vorbehalten bleiben. Dieser blieb aus und ist überfällig.

Denn Deutschland unterscheidet auch im Jahr 2019 trotz UN‐Behindertenrechtskonvention und Grundrecht auf Gleichbehandlung immer noch künstlich zwischen „Jugendhilfe“‐Kindern und „Eingliederungshilfe“‐ Kindern. Junge Menschen ohne Beeinträchtigungen oder mit einer seelischen Behinderung unterfallen dem Hilfesystem des SGB VIII und damit der Zuständigkeit des Jugendamts, junge Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen hingegen in das Hilfesystem des SGB XII und damit der Zuständigkeit der Eingliederungshilfe. Aufgrund der hierdurch entstehenden Zuständigkeitsstreitigkeiten werden viele Kinder, Jugendliche und Familien nicht nur zwischen den Behörden hin und her geschoben, erhalten keine, verspätet
oder nur unzureichend Hilfen. Die rechtlich gezogenen Trennlinien sind zudem mit einer ganzheitlichen Wahrnehmung von Menschen nicht vereinbar. So ist bspw. in jeder Hinsicht inakzeptabel, dass das Sozialrecht den jeweiligen IQ‐Wert von Kindern und Jugendlichen zum prägenden Merkmal erhebt, weil sich danach die behördliche Zuständigkeit entscheidet. Bei einem Wert von 69 und darunter ist die Eingliederungshilfe, bei einem Wert von 70 und darüber die Kinder‐ und Jugendhilfe zuständig.

Eine Zuordnung ins jeweilige System hat erhebliche Auswirkungen. Vier lebensnahe Beispiele zur  Veranschaulichung:

J O N A S ist schwerst mehrfach behindert zur Welt gekommen. Seitdem kümmern sich seine Eltern abwechselnd um seine Versorgung und Betreuung und werden dabei von einem ambulanten Pflegedienst unterstützt. Als Ben – Jonas drei Jahre älterer Bruder – zunehmend aggressiver wird, spüren die Eltern, dass sie als Eltern dringend familienentlastender Unterstützung bedürfen, insb. auch um sich um Bens Bedürfnissen wieder stärker widmen zu können. Der von ihnen um Hilfe ersuchte Träger der Eingliederungshilfe weist jedoch dieses Begehren mit der Begründung zurück, er sei ausschließlich für die
aus der Behinderung von Jonas resultierenden Bedarfe zuständig. Für alles andere müssten sie sich an das Jugendamt wenden.

L I N A ist mit einem fetalen Alkoholsyndrom (FASD) geboren, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft getrunken hat. Das Jugendamt hat sie in einer Pflegefamilie untergebracht. Lina war von Anfang an entwicklungsverzögert, inzwischen zeigen sich jedoch deutliche Lernschwierigkeiten. Eine IQ‐Testung im Alter von fünf Jahren ergab einen Wert von 73. Als sich bei einer erneuten Testung mit 7 Jahren ein IQ‐Wert von 68 ergibt, gibt das Jugendamt die Zuständigkeit an den Träger der Eingliederungshilfe ab. Dieser reduziert nicht nur die finanziellen Unterstützungen für Linas Pflegeeltern, sondern verweigert auch die Weiterleistung des bis dahin die Pflegefamilie begleitenden Fachdienstes. Linas Pflegeeltern sind verzweifelt und wissen nicht weiter.

P A U L A & F E L I X sind Zwillinge (acht Jahre), Paula ist Autistin, Felix hat eine Spastik. Sie gehen gemeinsam in eine integrative Schule. Mit ihren Freund*innen wollen sie auch zusammen den Hort besuchen, der jedoch voraussetzt, dass beide durch entsprechende Integrationshilfen unterstützt werden. Für Paula wird diese seitens des Jugendamts bewilligt. Der für Felix zuständige Träger der Eingliederungshilfe prüft jedoch zunächst die Einkommens‐ und Vermögensverhältnisse der Eltern und lehnt darauhin eine Kostenübernahme
für die Integrationshilfe für Felix ab. Die Eltern verstehen die Welt nicht mehr und überlegen, wie sie jetzt mit dieser Ungleichbehandlung ihrer beiden Kinder weiter umgehen sollen.

A N N A , vier Jahre, ist hörbehindert. Im Rahmen der Frühförderung lernt sie die Gebärdensprache. Damit sie diese auch Zuhause sprechen können, beantragen ihre Eltern die Finanzierung eines Gebärdensprachkurses für die ganze Familie. Der Träger der Eingliederungshilfe lehnt diesen jedoch ab, denn er dürfe nur Leistungen für Anna selbst gewähren.

Die Ungleichbehandlung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien ist nach zehn Jahren UNBRK ein nicht mehr zu rechfertigender Zustand. Deshalb haben Politik und Fachwelt die Reforminitiative der letzten Legislaturperiode genutzt, sich innerhalb sowie zwischen den beiden Hilfesystemen von Jugend‐ und Behindertenhilfe in grundsätzlichen Fragen zu verständigen. Der im Koalitionsvertrag angelegte und vom BMFSFJ aktuell umgesetzte Weg eines breit angelegten Beteiligungsprozesses knüpt hieran an. Nach diesem Diskussionsprozess „Mitreden – Mitgestalten“ sind der Bund und die Länder gefordert, die Inklusive Lösung umzusetzen, durch die alle Kinder und Jugendlichen – mit und ohne Behinderungen bzw. unabhängig von der Art ihrer Behinderung – eine einheitliche gesetzliche Grundlage im Kinder‐ und Jugendhilferecht (SGB VIII) finden.

Es ist an der Zeit, dass sich alle einen Ruck geben! Der fachliche Diskurs ist so weit, dass die offenen Fragen gesetzgeberisch beantwortet werden können. Die organisatorischen Herausforderungen sind nicht banal und benötigen Aufmerksamkeit, sind aber gestaltbar. Die finanziellen Auswirkungen der Umsetzung eines inklusiven SGB VIII für die Länder und Kommunen verdienen Beachtung und entsprechender Unterstützung durch den Bund.

Für uns, die Unterzeichnenden, ist die Gestaltung eines inklusiven Kinder‐ und Jugendhilferechts für alle Kinder und Jugendliche das zentrale Anliegen. Die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Politik steht jenseits von Parteien und föderalen Ebenen in der Pflicht, die UN‐Behindertenrechtskonvention umzusetzen und den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien eine gleichberechtigte Teilhabe an den Leistungen der Kinder‐ und Jugendhilfe zu ermöglichen. Eine Reform des Kinder‐ und Jugendhilferechts kann nur dann als gelungen bezeichnet werden, wenn die Exklusion von jungen Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen beendet und die Kinder‐ und Jugendhilfe für alle jungen Menschen gesetzlich gestaltet wird.

In diesem Sinne werden wir mit unserer Forderung nicht eher nachlassen, bevor die seit über 25 Jahren geführte gesellschafts‐ und fachpolitische Diskussion zu ihrem Erfolg findet!

Stellungnahme zur aktuellen Pressedebatte über Grenzverletzungen in kinder- und jugendpsychiatrischen und –psychotherapeutischen Einrichtungen

In Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie werden Patient*innen mit unterschiedlichen psychiatrischen Störungsbildern behandelt. Über die grundsätzliche Schutzwürdigkeit von Kindern und Jugendlichen hinaus bedürfen gerade junge Patient*innen mit psychischen Störungen und ihre Familien besonders sensibler Behandlung und Betreuung, die auch wesentliche Aspekte des Kinderschutzes umfasst, und die das Genfer Gelöbnis 2017, das besonders auf den Respekt vor der Autonomie und Würde der Patienten hinweist, respektiert.

Mitglieder aller Berufsgruppen der Kliniken für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie tragen deshalb eine besondere Verantwortung für ihre Patient*innen. Zu dieser Verantwortung gehört auch, im Rahmen von Schutz- und Stationskonzepten Vorkehrungen zu treffen, so dass Zwangs- und freiheitsentziehende Maßnahmen, welche bei entsprechendem Verhalten von Patient*innen durchaus notwendig werden können, auf ein Minimum reduziert werden. Dabei müssen sich die Kliniken an die gesetzlichen Vorgaben, entsprechende Leitlinien und Standards sowie ethische Anforderungen halten. Deeskalation muss immer Vorrang haben vor Freiheitsentziehung, und Beziehung immer Vorrang vor Ausgrenzung und Isolation.

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt ist in Deutschland noch kein gelebter Alltag, wie viele Vorkommnisse zeigen. Seit einiger Zeit ist die Entwicklung von Schutzkonzepten vermehrt als Notwendigkeit erkannt worden, für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ist sie bereits verpflichtend. Zunehmend wird deutlich, dass solche Konzepte auch im Bereich medizinischer Einrichtungen notwendig sind. Allerdings haben bisher bei weitem nicht alle Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, umfassende Schutzkonzepte und noch immer haben nicht alle Fachkräfte ein Basiswissen zu dieser Thematik. In Einrichtungen, auch medizinischen, finden Grenzverletzungen, sexuelle Übergriffe sowie psychische und physische Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen statt. Dabei können sowohl Minderjährige als auch Mitarbeiter*innen „Täter*innen“ sein.

In der Presse sind aktuell sehr problematische Vorgänge in Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und – psychotherapie thematisiert worden. Der Vorstand der DGKJP nimmt dies zum Anlass, auf die Verantwortung hinzuweisen, dass sich Institutionen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und – psychotherapie dieser Thematik stellen und entsprechende – einrichtungsindividuelle – Schutzkonzepte entwickeln müssen. Ebenso unterstützt die DGKJP entschieden die Initiative des „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM)“ der Bundesregierung, die Entwicklung von Schutzkonzepten auch für Kliniken verbindlich zu machen. Insofern begrüßen wir auch die Initiative der DKG, die auf dem BMBF-geförderten Verbundprojekt ECQAT „Leitungswissen Kinderschutz in Institutionen“ aufbaut, welches von Prof. J.M. Fegert (ehemaliger Präsident DGKJP) und Prof. M. Kölch (stv. Präsident DGKJP) entwickelt wurde.

Der Vorstand der DGKJP kann zum jetzigen Zeitpunkt die derzeit in der Presse vermeldeten Vorgänge nicht kommentieren, auch weil ihm die Details nicht umfassend bekannt sind. Diese Situation hat den Vorstand aber mit Sorge erfüllt, dass erneut Vorgänge nicht mit der notwendigen Transparenz angegangen werden und die Schutzinteressen der eventuell betroffenen Kinder und Jugendlichen hintenanstehen. Der Vorstand möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die wissenschaftliche Fachgesellschaft größte Anstrengungen unternimmt, Informationen zur sicheren und wissenschaftlich begründeten Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen zur Verfügung zu stellen. Dazu gehört auch die Information und Aufforderung an Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, entsprechende Schutzkonzepte zu erarbeiten, damit das Risiko für Übergriffe und Grenzverletzungen minimiert wird.

Konkret möchten wir auf folgendes verweisen:

Die Entwicklung und Umsetzung von Schutzkonzepten liegt in der Verantwortung der Leitung einer Institution. Wichtig ist, dass es ihr frühzeitig gelingt, die Mitarbeitenden zu motivieren, sich aktiv an diesem Organisationsentwicklungsprozess zu beteiligen und ihre spezifische Perspektive einzubringen. In diesem Prozess sollte sich die Institution von Beginn an von einer spezialisierten Fachberatungsstelle begleiten lassen.“ UBSKM (2015). Schutzkonzepte.

Zwischen der Deutschen Krankenhausgesellschaft DKG und dem UBSKM wurde bereits 2016 dazu eine Vereinbarung getroffen, die unter anderem eine Analyse der spezifischen Risiken vorsieht, einen Interventionsstufenplan, Standards bei der Personalauswahl sowie die Festlegung von Vorgehensweisen im Falle des Verdachts auf Übergriffigkeiten. Schutzkonzepten solle eine arbeitsrechtliche Bedeutung zugemessen werden, etwa in Form einer Dienstanweisung:
https://www.dkgev.de/fileadmin/default/Mediapool/2_Themen/2.3_Versorgung-Struktur/2.3.9_Kinderschutz/2016-02-23_Vereinbarung_DKG_UBSKM_final.pdf

Wir wissen, dass in vielen Kliniken hervorragende Arbeit geleistet wird, um für Kinder und Jugendliche eine sichere Umgebung und Behandlung zu gewährleisten, d. h. „gleichzeitig sowohl Schutzort als auch Kompetenzraum zu sein“ (UBSKM und DKG 2016). Eine fortlaufende Reflexion der Thematik durch die Mitarbeitenden ist wesentlich, um eine Kultur der Wertschätzung und des Respekts gegenüber Kindern und Jugendlichen zu pflegen.

Der Vorstand der DGKJP ist bereit, Mitglieder in allen damit zusammenhängenden Fragen zu beraten. Wir verpflichten uns gleichzeitig, über rechtliche und ethische Neuerungen in diesem sensiblen Feld umfassend und zeitnah zu informieren.

Der DGKJP-Vorstand, 30.07.2019

Offener Brief an die ARD

Sehr geehrte ARD, Sehr geehrter SWR,

am 3.7. wurde eine Dokumentation mit dem missverständlichen Titel „Elternschule“ gesendet, es gab zusätzlich ein „Extra: Elternschule − Filmgespräch mit Dietmar Langer“ zu dem Film und verschiedene Infos auf der SWR-Homepage („Elternschule | Doku Familien in Ausnahmesituationen“, „Doku im Ersten ‚Elternschule‘ trennt Therapie und Erziehung nicht klar genug“, „FAQ-Antworten auf häufig gestellte Fragen“ „Pressestimmen zum Film Ausgewählte Kritiken zur ‚Elternschule‘ “).

Berichte über Behandlungsmethoden, die nicht zu den evidenzbasierten gehören, (noch) nicht Mainstream sind, eben „Außenseitermethoden“, sind sicherlich grundsätzlich berechtigt.

Es ist Ihnen ja nicht entgangen, dass dieser Film, oder genauer die dargestellten angeblich innovativen Therapieverfahren bei und nach den Kinoaufführungen für Empörung gesorgt haben. Ein Grund für die Empörung war bei vielen die Frage ob wir in unserer Gesellschaft mit Kleinkindern so umgehen wollen, ob das ethisch überhaupt OK ist. Wird die Würde der Kinder verletzt? Ein weiterer Grund war bei vielen die Frage danach, ob wir in unserer Gesellschaft überhaupt mit Kleinkindern so umgehen dürfen, die Frage nach den Kinderrechten. Welche Rechte haben Kleinkinder?

Obwohl es in Ihrer Berichterstattung verschwiegen wird, ist Ihnen vermutlich nicht entgangen, dass eine der für diesen Behandlungskontext zuständigen medizinischen Fachgesellschaften, die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), sich sofort kritisch zu dieser „Außenseitermethode“ der Verhaltenstherapie auf der Grundlage von Zwangsmaßnahmen geäußert hat. Siehe die „Stellungnahme der DGKJP zum Film ‚Elternschule‘, einem Dokumentarfilm von Jörg Adolph & Ralf Bücheler“ vom 2.11.2018 (siehe auf der Homepage der DGKJP und in Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie 2019 Heft 2). Ähnlich hat sich die Fachgesellschaft der Sozialpädiater (die DGSPJ) geäußert. Die DGKJP ist „federführend“ bei den beiden vorliegenden medizinischen Behandlungs-Leitlinien, der „S2k-Leitlinie 028/041 – Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulter“ aktueller Stand: 09/2015 und der „S1-Leitlinie 028-012 „Nichtorganische Schlafstörungen“ aktueller Stand: 07/2018.

Trotzdem senden Sie diesen Film, ohne ihn in eine ausgewogene Fachdiskussion einzubetten. Ganz im Gegenteil geben Sie einem Protagonisten der Methode noch ausführlich Gelegenheit diese zu erläutern und die offensichtlichsten Schwächen der Dokumentation „schönzureden“ (Extra: Elternschule – Filmgespräch“).

Bei einer ausgewogeneren Berichterstattung der ARD/SWR hätte man z. B. erwarten können, dass bezüglich der ethischen Einordnung von Zwangsmaßnahmen bei Kleinkindern der „Deutsche Ethikrat“ (oder eines seiner Mitglieder) um seine Meinung befragt wird. Weil eine der ersten Fragen, die wir uns vor einer solchen „Zwangsbehandlung“ stellen sollten, ist doch, ob wir diese Therapie überhaupt bei kleinen Kindern, die sich ja noch nicht wehren können, überhaupt anwenden sollten, also die ethische Frage nach der Würde eines Kleinkindes. Kinderrechte und die UN-Kinderrechtekonven-tion wären weitere naheliegende Themen, die Frage danach, welche Rechte wir Kleinkindern, in Abgrenzung zu Kindern und Jugendlichen, noch zugestehen. Ist das Einsperren in einen Raum eine Isolierung? Ist längeres Festhalten eine Fixierung? Und wie kann man den Kommunikations- und Zuwendungsentzug (nicht Reden, kein Trost, keine positive Zuwendung usw.), oder wie es im Film salopp hieß „Handeln nicht Quatschen“, einordnen?

Mir steht es nicht zu, Ihre Recherchen zu beurteilen, aber haben Sie sich gar nicht gewundert, dass es zu diesem „innovativen“ Behandlungsverfahren, was nach der Selbstdarstellung ja über Jahrzehnte besonders erfolgreich sein soll, gar keine wissenschaftliche Publikationen vorliegen, es keinerlei wissenschaftliche Begleitforschung gibt? War es für Sie überhaupt nicht verwunderlich warum in vielen anderen Kliniken unseres Landes diese Behandlungsmethoden in dieser Form nicht genutzt wurden und die Kinder aber ebenfalls „gesund“ wurden und werden?

Die kritischen Fachmeinungen werden von Ihnen einfach ignoriert, sogar bei den Hintergrundinformationen des SWR auf deren Homepage werden die kritischen Stellungnahmen verschiedener Fachgesellschaften einfach verschwiegen (https://www.swr.de/film/elternschule-doku-erziehung-kinder-eltern/-/id=5791128/did=24257382/nid=5791128/y2unnl/index.html; Download 4.7.2019 15:31).

„Verhaltenstherapie“ in der Form von Verhaltenstraining mit Zwangsmaßnahmen um ein bestimmtes, gewünschtes Verhalten durchzusetzen hat es in der Vergangenheit bereits häufiger gegeben. Sie erinnern sich vielleicht noch an Ihre eigenen Filmbeiträge über die sogenannten Boot-Camps in den USA. Um die Boot-Camps ist es aber nicht nur bei Ihnen ruhiger geworden, stellte sich doch heraus dass die Rückfallquoten nicht signifikant besser waren und das auch, weil die willentlich gebrochenen jungen Menschen noch anfälliger wurden für eine Unterordnung unter die „falschen Kumpel“.

Dass ihnen ihr Wille gebrochen wurde, dass sie zu einem gewünschten Verhalten gezwungen werden sollten haben auch immer wieder die Heimkinder aus den Heimen und Anstalten der 50er bis 70er berichtet (siehe den Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung RTH). Mehrere Ihrer Sendeanstalten haben ausführlich über diese schrecklichen Erfahrungen der Betroffenen berichtet. Kürzlich erst hat sich der Bundessozialminister Hubertus Heil bei einer Veranstaltung der Stiftung Anerkennung und Hilfe mit dem Titel „Zeit, über das Leid zu sprechen“ (13.5.2019 im Museum für Kommunikation in Berlin) bei den Betroffenen entschuldigt. Im Zwischenbericht der Forschergruppe bezeichnete Prof. Fangerau die in Säuglingsheimen, Heimen und Anstalten erlebte Verhaltensanpassung als „Pädagogische Gewalt im Sinne von Gewalt als Erziehungsmittel“ (Vortrag der Forschergruppe zur „Wissenschaftlichen Aufarbeitung und Anerkennung von Leid und Unrecht“ im Rahmen der Veranstaltung „Zeit, über das Leid zu sprechen“ am 13.05.2019 in Berlin). Der Bundessozialminister Hubertus Heil hat den Betroffenen versprochen, dass sich so etwas nicht wiederholen darf.

Es ist vielleicht noch nicht so bekannt, aber für die Ärzteschaft (also auch einige Mitarbeiter der Klinik in Gelsenkirchen) gelten seit 2017 neue berufsethische Standards. Im „Genfer Gelöbnis“ von 2017 wird für den Arzt festgehalten:

„2. Die Gesundheit und das Wohlergehen meines Patienten wird oberstes Gebot meines Handelns sein.

3. Ich werde die Autonomie und Würde meines Patienten respektieren“ (zitiert nach der „(Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte“, Beschluss des 121. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt; Hervorhebungen durch den Autor).

Beurteilen Sie bitte selbst, in wieweit bei den gezeigten Behandlungen „Wohlergehen“, „Autonomie“ und „Würde“ der kleine schutzbedürftigen Patienten gewahrt bleiben.

Vielleicht wollten Sie mit Ihrer einseitigen Berichterstattung nur Ihre Investitionen in dieses Filmprojekt „schützen“, vielleicht fällt es Ihnen auch nur schwer einzugestehen, dass Sie die Komplexität des Themas ein wenig unterschätzt hatten, es wäre aber für die sicherlich wichtige Frage der therapeutischen Behandlungsstandards von Kleinkindern und auch im Sinne Ihres öffentlich-rechtlichen Auftrages erfreulich, wen ARD und SWR wieder zu einer ausgewogeneren Berichterstattung zurückfinden könnten.

Dr. Klaus Schepker, Universitätsklinikum Ulm / Mitglied der DGKJP

Ulm, 9.7.2019

Krankenkassen blockieren zeitgemäße Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik

Gemeinsame Stellungnahme zur Position des GKV-Spitzenverbands

An die neue Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu Personalmindestvorgaben in
Psychiatrie und Psychosomatik haben Patienten, Angehörige und alle in der Versorgung Tätigen hohe
Erwartungen geknüpft: Die Sicherstellung einer zeitgemäßen Personalausstattung als Grundlage für
eine leitliniengerechte Krankenhausversorgung. Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-SV) hat nun im laufenden Stellungnahmeverfahren seine Position veröffentlicht: Sie setzt auf Stillstand und Sanktionen. Sollten die Krankenkassen sich durchsetzen, wäre nichts gewonnen – und viel verloren.

Nach Vorstellung der Krankenkassen soll die fast 30 Jahre alte Psychiatrie-Personalverordnung quantitativ und strukturell unverändert in eine Personaluntergrenze überführt werden, bei deren Unterschreitung ein rigides Sanktionssystem greift. Die Krankenhäuser sollen die Einhaltung der Untergrenzen pro  Berufsgruppe, Station und Woche nachweisen – sonst werden bereits erbrachte Leistungen nicht bezahlt, was zur Schließung von Stationen führen kann.

Sollten diese Vorschläge Realität werden, wäre die flächendeckende Krankenhausversorgung in Psychiatrie und Psychosomatik ernsthaft bedroht. Die unterzeichnenden medizinischwissenschaftlichen Fachgesellschaften, Klinik- und Berufsverbände sowie Verbände der Selbsthilfe und der Angehörigen fordern deshalb

1. Die verbindliche Weiterentwicklung der Richtlinie: Es muss festgeschrieben werden, dass die Richtlinie nur eine Übergangslösung darstellt und mit einem verbindlichen Zeitplan zu einem  zukunftsfähigen Personalbemessungsinstrument weiterentwickelt wird. Ziel und Zweck muss sein, eine  leitliniengerechte Versorgung in psychiatrischen, kinder- und jugendpsychiatrischen und
psychosomatischen Kliniken zu garantieren.
2. „Personalmindestvorgaben“ statt „Personaluntergrenzen“: Die Richtlinie muss zwischen
Personalmindestvorgaben, die sich an der erforderlichen Versorgungsqualität ausrichten, und einer zur Gewährleistung der Patientensicherheit notwendigen Personaluntergrenze differenzieren.
3. Die sofortige Verbesserung der Personalausstattung: Die Psych-PV kann zwar übergangsweise als Grundlage der neuen Personalmindestvorgaben dienen, die Personalausstattung muss aber sofort gemäß der aktuellen ethischen, medizinischen und rechtlichen Standards strukturell angepasst und quantitativ erhöht werden;
4. Nachweispflichten pro Klinik und Jahr: Notfälle und behandlungsintensive Patienten können kurzfristig den flexiblen Einsatz von Personal innerhalb einer Klinik notwendig machen. Auch die Pflichtversorgung der Kliniken für eine bestimmte Region führt immer wieder zu vorübergehenden  Überbelegungen. Hierfür  brauchen die Krankenhäuser eine entsprechende Freiheit in der  Personalplanung. Das vom GKV-SV vorgeschlagene starre stationsbezogene Nachweissystem
würde hingegen zur Abweisung von Patienten und letztlich zu Stationsschließungen führen. Statt
ökonomischer Sanktionen, welche die flächendeckende regionale Versorgung grundlegend gefährden,
muss ein differenziertes und auf die Erreichung der Qualität ausgerichtetes System von Maßnahmen
geschaffen werden, welches die Kliniken angesichts von hohen Ausfallquoten und Nachwuchsmangel
bei der Erfüllung der Mindestvorgaben unterstützen.
Der gesetzliche Auftrag (PsychVVG, § 136a Abs. 2 SGB V) sieht die Erstellung einer Richtlinie für
Mindestvorgaben zur Personalausstattung in Kliniken für Psychiatrie und Psychosomatik vor, welche
zu einer qualitativ hochstehenden und leitliniengerechten Versorgung beitragen sollen. Dies ist
notwendig, da die noch geltende Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) von 1991 die aktuellen
medizinischen, rechtlichen und ethischen Standards nicht berücksichtigt und ihre Gültigkeit zum
01.01.2020 verliert. Die neue Personalausstattungs-Richtlinie muss bis zum 30.09.2019 vom G-BA
verabschiedet werden und soll zum 01.01.2020 in der Nachfolge der Psych-PV in Kraft treten.

Hier finden Sie das Statement des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherungen: https://www.gkv-90prozent.de/ausgabe/13/meldungen/13_personalausstattung-psychiatrie/13_personalausstattung-psychiatrie.html

Die gemeinsame Stellungnahme zur Position des GKV-Spitzenverbands wird unterstützt von
▪ Berufsverband Deutscher Nervenärzte e. V. (BVDN)
▪ Berufsverband Deutscher Psychiater e. V. (BVDP)
▪ Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V. (BKJPP)
▪ Bundesdirektorenkonferenz – Verband leitender Ärztinnen und Ärzte der Kliniken für Psychiatrie
und Psychotherapie e. V. (BDK)
▪ Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e. V. (BApK)
▪ ChefärzteInnen der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern (ackpa)
▪ Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz
▪ Deutsche Ärztliche Gesellschaft für Verhaltenstherapie e. V. (DÄVT)
▪ Deutsche Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege e. V. (DFPP)
▪ Deutsche DepressionsLiga e. V. (DDL)
▪ Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie e. V. (DGGPP)
▪ Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP)
▪ Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN)
▪ Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e. V. (DGPM)
▪ Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V. (DGZ)
▪ Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e. V. (DVSG)
▪ Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie e. V. (LIPPs)
▪ Pandora Selbsthilfeverein für Psychiatrie Erfahrene e. V.
▪ Spitzenverband ZNS (SpiZ)
▪ Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands e. V. Fachgruppe psychiatrische Einrichtungen (VKD)

Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes für bessere und unabhängige Prüfungen – MDK- Reformgesetz

Das Bundesgesundheitsministerium hat am 02. Mai 2019 einen Referentenentwurf vorgelegt und damit langjährigen Forderungen der Fachverbände in Richtung auf eine Reduzierung des „Misstrauensaufwandes“ zu entsprechen versucht.

Zu begrüßen ist die Intention, den Medizinischen Dienst zu einer unabhängigen Körperschaft zu entwickeln – diese wird er aber unabhängig von der Rechtsform erst dann werden, wenn die Absicht hauptamtliche Mitarbeiter der Krankenversicherungen aus den Verwaltungsräten auszuschließen, wirklich umgesetzt wird. In diesem Zusammenhang begrüßen wir ausdrücklich die Berufung von Patientenvertretern, Ärztevertretern und Vertretern des Pflegepersonals in den jeweiligen Verwaltungsrat.
Positiv bewerten wir ebenfalls das Aufrechnungsverbot der Krankenkassen – gerade in kleinen KJPP-Einrichtungen war die Liquidität dadurch teilweise ernsthaft gefährdet.
Ebenso begrüßen wir die Bindung der Krankenkassen an das Prüfergebnis des Medizinischen Dienstes, auch wenn die logische Konsequenz eine Unmöglichkeit für die Krankenhäuser ist, noch Informationen zur Behandlung im Nachgang nachzutragen, um dem Prüfergebnis fundiert zu widersprechen.
Eine Ombudsstelle für Patienten/ Versicherte und Beschäftigte der Medizinischen Dienste ist überfällig.
Die Evaluation der Neuregelungen drängt sich auf, sollte aber aus Gründen der wissenschaftlichen Objektivität extern und nicht durch die Selbstverwaltung selbst erfolgen.

Dennoch besteht aus Sicht der DGKJP in einigen Punkten ein Nachbesserungsbedarf, den wir im Folgenden ausführen möchten.
Überdenkenswerte Punkte im MDK-Reformgesetz sind die folgenden:

1. Eine Prüfquote würde den Prüfaufwand erheblich verringern und wirkt zunächst als ein sinnvolles Mittel. Allerdings besteht unsererseits Sorge, dass eine auf das gesamte Krankenhaus bezogene Prüfquote dennoch kleinere Fächer und spezifische Settings zu wenig berücksichtigt, als dass eine Mittelung der Prüfquote über alle Abteilungen und Bereiche eines Krankenhauses dennoch hohe Prüfquoten in kleinen Bereichen zulässt. Derzeit betrifft das die stationsäquivalente Behandlung nach § 115d SGB V, die zu nahezu 100 % geprüft wird. Das behindert die Einführung des politisch gewollten und fachlich begrüßten Angebots immens.
Möglicherweise ist die spezielle Problematik im Sinne der Förderung der Ambulantisierung nach § 115 b zu berücksichtigen (s.u.). Ansonsten plädieren wir für die Einführung eines Settingbezugs dahingehend, dass insbesondere kleine Untereinheiten eines Krankenhauses (Tageskliniken, Stationsäquivalente Behandlungsteams) nur zu 20 % geprüft werden dürfen.

2. Das Verbot von nicht abschließend ausgeführten Sondervereinbarungen nach § 275c Abs 7 SGB V bedarf aus Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie einer spezifischeren Betrachtung. Sofern Sondervereinbarungen in Hinsicht auf einen „Prüfkorridor“ insbesondere im Bereich der Suchtbehandlung Jugendlicher abgeschlossen wurden (keine Prüfung von Fehlbelegungen bei Einhalten eines Verweildauerkorridors von x Tagen), ist das ein sinnvolles Instrument. Es sei darauf hingewiesen, dass im Bereich der Suchtbehandlung Jugendlicher eher eine längere Durchschnittsverweildauer als eine kürzere als Qualitätsmerkmal gelten kann, da sie positiv auf eine gute „Haltequote“ in der Behandlung hinweist. Erst bei notwendiger Überschreitung einer vereinbarten Grenzverweildauer erfolgt in einem solchen Rahmen eine – sinnvolle – Rückkoppelung mit dem Kostenträger bzw. mit dem Medizinischen Dienst hinsichtlich einer Verlängerung. Die Fortexistenz solcher aus unserer Sicht fachlich sinnvollen Vereinbarungen sollte sichergestellt sein.

3. So sehr die elektronische Übermittlung von Prüfunterlagen nach § 275 c Abs. 4 SGB V aus Umweltschutzgründen zu begrüßen ist, sollte zusätzlich auf rein elektronische Übermittlung mit Verschlüsselungstechnologie abgestellt werden. Zu ärgerlich ist der aktuell gelegentlich zu beklagende, auch datenschutztechnisch bedenkliche Verlust von Datenträgern auf dem Postweg.

4. Die Strukturprüfungen nach § 115 b) sollten auch auf die psychiatrischen Einrichtungen mit den Leistungen nach § 115 d) ausgedehnt werden, die nicht sicher – weder im Gesetzentwurf noch in der Begründung – mit gemeint sind. Strukturprüfungen, die im Psych VVG bereits für die Psychiatrie etabliert wurden, sollten insgesamt einer harmonisierten Regelung für alle Fachgebiete unterzogen werden.

5. Im Sinne unseres Punktes 4. sollten die Bedürfnisse Behinderter im Rahmen der Ambulantisierung von Krankenhausleistungen auch für nicht operative Fächer besonders berücksichtigt werden. So ist unser Fachgebiet am Rande betroffen von der gering vorhandenen Möglichkeit, schwer mehrfachbehinderte junge Erwachsene nach Entwachsen der Behandlung und Betreuung durch sozialpädiatrische Zentren durch epileptologische Zentren ambulant, in Einrichtungen auch aufsuchend, diagnostizieren und behandeln zu lassen. Wir fordern das Bundesgesundheitsministerium auf, den Selbstverwaltungspartnern hier, etwa im Rahmen der Gesetzesbegründung, deutlichere Hinweise zu geben. Die MZEBs nach § 116 SGB V stellen hierfür keine realistische Alternative dar.

6. Die Änderung der BPflV § 8 und § 11 in Artikel 5 des Referentenentwurfs muss für kleinere, insbesondere pflichtversorgende Einheiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Nachbesserungsfrist offenlassen. Die Formulierung im Gesetzentwurf ist abschließend formuliert und bedeutet bei Unterschreiten der Strukturmerkmale die Gefahr eines Klinik- oder Abteilungssterbens. Es sei darauf hingewiesen, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie bereits derzeit nicht wohnortnah aufgestellt sein kann und dass je nach regionaler Betten- und Abteilungsdichte für die Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher bei nicht korrigierbarer Feststellung eines Leistungsverbots der Zusammenbruch der Versorgung einer Region die Folge sein kann. Zumindest müssten die Selbstverwaltungsträger verpflichtet werden, dann Wege für die weitere Versorgung psychisch kranker Jugendlicher zu suchen oder den Krankenhausträger bei der Nachbesserung der Strukturvorgaben zu unterstützen und diese in einem gegebenen Zeitraum nochmals zu überprüfen.

Stellungnahme zu Leid- und Unrechtserfahrungen in Heimen, Anstalten und Kliniken in der Nachkriegszeit

Mit einer Stellungnahme vom 11.11.2015 zur „Errichtung eines Hilfesystems für Menschen, die als Kinder und Jugendliche in der Zeit von 1949 bis 1975 (Bundesrepublik Deutschland) bzw. 1949-1990 in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe bzw. stationären psychiatrischen Einrichtungen Unrecht und Leid erfahren haben“ hatte die DGKJP sich für eine umfassende Anerkennung, historische Aufarbeitung und niedrigschwellige Hilfe für die Betroffenen eingesetzt.

Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ hat mittlerweile am 1.1.2017 ihre Arbeit aufgenommen. Die Stiftung bemüht sich um die öffentliche Anerkennung von erlebtem Leid und Unrecht der Betroffenen, die Anerkennung durch wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Leid- und Unrechtserfahrungen sowie die individuelle Anerkennung und Unterstützung der Betroffenen durch finanzielle Hilfe. Viele Forderungen unserer Fachgesellschaft fanden in der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ Berücksichtigung, und wir begrüßen die sichtbare Öffentlichkeitsarbeit.

Bereits 2010 wurde im Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung (RTH) auf mögliche Medikamentenversuche und Dauermedikationen mit Psychopharmaka in Heimen und Anstalten hingewiesen. Diese Themen wurden jedoch nicht weiter thematisiert mit der Begründung: „Ob und in welchem Umfang eine solche Praxis vorkam, kann jedoch so viele Jahre später schwer beurteilt werden. Der Medikamenteneinsatz in der Heimerziehung, das Zusammenwirken von Heimerziehung und Psychiatrie und die Beteiligung von Ärzten an solchen Versuchen sind für die 50er und 60er Jahre noch kaum erforscht und bedürfen der weiteren Aufarbeitung“ (RTH, S. 20). Zwischenzeitlich, ca. 9 Jahre später, kann aber auf diverse wissenschaftliche Publikationen zu diesem Bereich verwiesen werden. Allein in den ersten Monaten des Jahres 2019 sind 3 Publikationen erschienen: Kaufung, Holtkamp und Boege (2019) berichten über Medikationen in der KJP Gütersloh und Weissenau in den 50er Jahren, Hähner-Rombach und Hartig (2019) stellten die Forschungsergebnisse zu Medikamentenversuchen im Rahmen der Heimerziehung in Niedersachsen 1945-1978 vor und Schepker und Fegert (2019) berichteten über Dauermedikationen in Heimen und Anstalten in den 50er-70er Jahren.

In der Nachkriegszeit gab es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie kaum therapeutische Möglichkeiten, lediglich physikalische Behandlungsformen, wie z. B. Bäder und Massagen, Insulin- und Elektroschockbehandlungen, Entspannungsübungen und Autogenes Training, Arbeitstherapie, Schlaftherapie und Psychotherapie bei Neurosen (siehe auch Kaufung u.a 2019). Neue therapeutische Möglichkeiten wurden auch deshalb „begeistert“ aufgegriffen. So wurde über die ersten uns heute bekannten Medikamentenversuche an Kindern, die Glutaminsäureversuche in Tübingen und an anderen Orten, selbst vom „Spiegel“ nahezu euphorisch berichtet und Glutaminsäure als das „Pulver gegen Dummheit“ (Der Spiegel 7.5.1952) gepriesen. Auch Chlorpromazin wurde im „Spiegel“ als „Pille fürs Gehirn“ (Der Spiegel 24.8.1955) und als „Das Seelen-Aspirin“ begrüßt (Der Spiegel 29.08.1956).

Im Abschlussbericht des RTH wird festgestellt, „dass Psychopharmaka in den 50er und 60er Jahren verstärkt entwickelt wurden und im klinischen Alltag noch erprobt werden mussten“ (RTH, S. 19). Solche damals üblichen „Erprobungen“/ „Prüfungen“, d.h. die Anwendung eines Versuchspräparates und noch nicht angemeldeten/registrierten Arzneimittels im Rahmen der Heilbehandlung, sind empirisch belegt. Nach Kaufung u.a. (2019) gab es in den KJPs Gütersloh und Weissenau unter 966 Patienten 9 Fälle von sogenannter „Nummernmedizin“ (Kaufung 2019, S. 6-7). In der Testphase wurden die Versuchspräparate mit einer Buchstaben-/ Nummernkombination kenntlich gemacht. Im Falle des Versuchspräparates „16038“, einem Antiepileptikum, war die KJP Weissenau eine von 17 „Prüfstellen“ in Deutschland. Insgesamt wurden in diesen „Prüfstellen“ 225 Patienten mit dem Präparat behandelt (Quelle: Novartis Archiv).

Historisch ist die Vielzahl von (Einzelfall-)„Erprobungen“ vor dem Hintergrund der damaligen Anforderungen der Politik, insbesondere der Gesundheitsbehörden, an die Pharmaindustrie bei der Anmeldung (bis 1961) oder Registrierung (1961-1977) von neuen Medikamentenzu betrachten. Bis 1959 reichten „etwaige Unterlagen über die […] klinische Wirkung“ aus, von 1959 bis 1961 wurden „klinische Erprobungen“ erwartet und von 1961 bis 1964 „ärztliche Prüfungen“. Erst ab 1964 sollte „Art, Umfang und Ergebnisse der klinischen […] Prüfung“ wenigstens nach „wissenschaftlichen Standards“ erfolgen, der dann 1971 in der „Richtlinie über die Prüfung von Arzneimitteln des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit vom 11.6.1971“ erstmals konkret eingefordert wurde (Quelle: die jeweiligen Verordnungen, Gesetze und Erlasse).

In den 50er und 60er Jahren wurden von der Pharmaindustrie noch keine systematischen Studien bei der Anmeldung/Registrierung von neuen Medikamenten gefordert. (Einzelfall-) “Erprobungen“/„Prüfungen“ reichten aus, die eingereichten Unterlagen wurden nicht fachlich überprüft.

Bis 1978 gab es auch für Ärzte keine expliziten, direkten rechtliche Regelungen für medizinische Forschung am Menschen und für die teilnehmenden Patienten. Ärztliches Handeln und das Verhältnis Arzt – Patient und – Klinik unterlag aber immer und zu jeder Zeit den allgemeinen gesetzlichen Regelungen, wie z. B. den allgemeinen Bestimmungen des StGB zur Körperverletzung, und deren Auslegungen durch Gerichte. Neben allgemeinen gesetzlichen Regeln unterlag ärztliches Handeln zusätzlich auch berufsrechtlichen Anforderungen, wie Vorgaben der Behandlung gemäß des aktuellen Wissens (state of the art) und des Vermeidens von Schaden (primum non nocere).

Fragen der „Aufklärung“ und „Einwilligung“ wurden wichtig, wenn es zu Schäden bei der Behandlung gekommen war, und wurden dann vor Gericht verhandelt, so wie bei den „Elektroschockurteilen“ des BGH 1954 und 1958. Die ethisch geforderte Aufklärung und Einwilligung bei medizinischen Versuchen am Menschen wurde vor 1978 zumeist nur dann von den Ärzten vorgenommen, wo sie sich und ihre Einrichtungen vor Haftungsschäden schützen wollten, zum Selbstschutz.

Neue Medikamente waren zum Zeitpunkt der „Markteinführung“ systematisch im Tierversuch getestet, an Menschen bis 1961 aber lediglich „erprobt“ oder später dann „geprüft“. Solche „Erprobungen“ oder „Prüfungen“ wurden auch in niedersächsischen Heimen durchgeführt. Ein wichtiges Kriterium für die Unterscheidung von Medikamentenversuch und Medikamentenanwendung, besonders die Dauermedikation ist der Zeitpunkt der „Markteinführung“ des Wirkstoffes (Hähner-Rombach u. a. 2019 S. 38-39), mit angegebenen Indikationen und Dosierungen.

Bund und Bundesländer räumten den Pharmaunternehmen in den 50er – 70er Jahren weitreichende Handlungsfreiheiten ein. Die Produkte konnten letztlich nicht wissenschaftlich getestet auf den Markt kommen, die Indikationen waren oft „weit“ gefasst und die Dosierungen nicht systematisch altersspezifisch geprüft. Viele bis zum Sommer 1964 markteingeführte Psychopharmaka waren zudem nicht einmal rezeptpflichtig, also scheinbar harmlos.

Die von den Behörden freigegebenen Indikationen waren z. T. sogar extrem „weit“, wie z. B. bei einem bekannten Butyrophenonderivat, einem Neuroleptikum welches 1959 auf den Markt kam und für alle, „psychiatrische u. neurologische Indikationen“ geeignet gewesen sein soll (Rote Liste 1963).

„Berichte ehemaliger Heimkinder weisen darauf hin, dass der Medikamentengabe oft keine medizinische Indikation zugrunde lag“ (RTH, S. 19). Richtig, der dämpfende, sedierende Charakter, z. B. von Chlorpromazin, sollte genutzt werden, um den Anstaltsalltag und den Schulunterricht effektiver zu gestalten. Die neuen Psychopharmaka waren demnach angeblich bei eher „sozialpädagogischen“ Indikationen anwendbar und damit für die Nutzung in „Anstalten“ geeignet, für die zugleich günstige Großpackungen angeboten wurden (Schepker u.a. 2019). Einige Beispiele aus der Roten Liste von 1969:

  • Dixyrazin wurde in „Anstaltspackungen mit 500 Tabl.“ angeboten für „charakterliche Instabilität bei Kindern“
  • Thioridazin wurde in „Anstaltspackungen mit 250 u. 1000 Dragees“ angeboten für „Verhaltensstörungen, Trotzreaktionen, Wutanfälle, Schul- und Erziehungsschwierigkeiten, nervöse u. neuropathische Kinder“
  • Periziazin wurde in „Anstaltspckgn. mit 500 Drag.“ angeboten zur „Behandlung von Verhaltensstörungen bei Kindern, Jugendlichen“. In einer Fachwerbung heißt es 1968 gar, es „erleichtert das Zusammenleben“
  • Chlorprothixen wurde in „Anstaltspckgn. m. 250, 1000 (4*250) Drag.“ angeboten bei „Unruhezuständen, Eingewöhnungsschwierigkeiten“, und noch 1979 für „Ruhigstellung“ beworben
  • Perphenazin wurde in „Anstaltspckgn. m. 250, 1000, 5000 Tabl.“ angeboten und „zur Beseitigung von Unruhe- u. Erregungszuständen, Angst- u. Spannungsgefühlen, Gereiztheit“ empfohlen.

„Ziel der Behandlung, etwa durch Medikamentenvergabe, war daher allzu häufig nicht, den Kindern und Jugendlichen ein Genesen und gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, sondern sie ruhigzustellen“ (RTH, S. 20). Auch wenn das Konzept der „Genesung“ aufgrund etwaiger therapeutischer Interventionen auch heute bei manchen Verhaltensstörungen fachlich zumindest als nicht ganz passend erscheint, so ist auch zu konstatieren, dass vermutlich aus einem heute als zu wenig kritisch zu beurteilenden therapeutischen Optimismus gegenüber Psychopharmaka auch Aspekte der Integration der Kinder (vgl. z.B. die Indikation: Erleichtert das Zusammenleben) eine Rolle gespielt haben. Dass Nutzen und Risiko dabei aus heutiger Sicht nicht hinreichend abgewogen wurden, ist die andere Seite. Haben Ärzte solche Medikamente dann im Heimalltag gegen „Schul- und Erziehungsschwierigkeiten“, „charakterliche Instabilität“, „Eingewöhnungsschwierigkeiten“, „Verhaltensstörungen“ oder zur „Ruhigstellung“ verschrieben, so geschah dies zwangsläufig fast ohne Wissen über die genauen Wirkungen und Nebenwirkungen bei Kindern und Jugendlichen, geschweige denn über mögliche Langzeitwirkungen bei Heranwachsenden und für eigentlich nicht-medizinische Indikationen.

Der verschreibende Arzt „experimentierte“, ohne wirklich vorab wissen zu können, was passieren würde. Die eigentlich vor Markteinführung notwendigen Tests wurden so zu Feldversuchen. Trotz staatlicher Genehmigung und Verkauf der Medikamente durch die Pharmaunternehmen verblieb die „ärztliche Letztverantwortung“ aber beim Arzt. Er hatte nach den medizinethischen Grundsätzen jede Behandlung so zu gestalten, dass der Patient zuallererst nicht geschädigt wurde. Die aus den unzureichenden Forschungen der Pharmaunternehmen resultierenden möglichen „Behandlungsfehler“ der Ärzte (wie Überdosierungen) und die Schäden bei den Patienten (wie unerwünschte Langzeiteffekte) gingen, staatlich genehmigt, letztlich zulasten der Betroffenen, wie auch im Contergan-Skandal. Die Nutzungsrisiken lagen voll beim Patienten, für den durch die Registrierungspraxis staatlicherseits kein Schutz bestand.

In wieweit die Behauptung aus dem Abschlussbericht des RTH zutrifft „Wenn es im Rahmen der Heimerziehung zu generellen und kollektiven Behandlungen bzw. Sedierungen gekommen ist, die weniger den Kindern und Jugendlichen als der Disziplin im Heimalltag […] zuträglich waren, ist dies als Missbrauch zu beurteilen und erfüllt ggf. den Tatbestand der (schweren) Körperverletzung – auch nach damaligen Maßstäben“ (RTH, S. 20), ist noch zu klären. Einzubeziehen wären hier die mögliche Produkthaftung des Pharmaunternehmens, das Versagen des Staatsschutzes durch die Gesundheitsbehörden, die nicht wahrgenommenen Aufsichtspflichten der verschiedenen Behörden und die unterlassene Fürsorge durch Einrichtung und Trägerorganisationen.

Das „pharmazeutische Netzwerk“ aus Ärzten, Pharmaunternehmen, Einrichtungs- und Kostenträgern und den staatlichen Fürsorge- und Gesundheitsbehörden ist, wenn auch vielleicht nicht im engeren rechtlichen Sinne, so doch ethisch-moralisch verantwortlich für Medikamentenversuche und die darauf folgende gängige Praxis der Dauermedikation in Heimen und Anstalten der Nachkriegszeit.

Angesichts der vorliegenden neuen Forschungsergebnisse ist von einer allseitig akzeptierten Dauerbehandlung mit Psychopharmaka in Heimen und Anstalten auszugehen. Anders als bei den zeitlich begrenzten Medikamentengaben in Studien (z.B. dauerte die Versuchsmedikation in der Chlorpromazin-Studie von Kiesow und Jacobs 1956 in Schleswig-Hesterberg 10 Tage, siehe dort S. 4) sind bei einer monate-, vielleicht sogar jahrelangen Dauermedikation an Kind oder Jugendlichem, mit fast ungetesteten Psychopharmaka, Folgeschäden zumindest möglich.

Häufig wird von Betroffenen berichtet, dass ihre schulischen Leistungen durch die Dauersedierung beeinträchtigt waren (Schepker 2019, S. 43), was in der Folge ihr ganzes Leben beeinträchtigt hat.

Die Medikamentenversuche und die Dauermedikationen sind ein dunkles Kapitel in der deutschen Heimgeschichte und die Ärzteschaft hierbei mitverantwortlich. Im Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung wurden Medikamentenversuche und Dauermedikation mit Psychopharmaka in Heimen und Anstalten noch ins Reich der „Möglichkeiten“ verwiesen (RTH, S. 19-20). Obwohl „ehemalige Heimkinder berichteten, dass sie im Heim Psychopharmaka einnehmen mussten“ und darauf drangen „diese Problematik im Rahmen des Runden Tisches zu behandeln“ (RTH, S. 19), wurden die Themen Medikamentenversuche und Dauermedikation aber nicht weiter berücksichtigt. Heute kann festgehalten werden: es gab definitiv Medikamentenversuche und Dauersedierungen in Heimen und Anstalten in der Nachkriegszeit.

Es stellt sich die Frage, wie dieses noch offene Kapitel des Runden Tischs Heimerziehung auch nach Abschluss desselben – aufgearbeitet werden kann, und ob sich dadurch eigenständige Ansprüche auf adäquate Anerkennungsleistungen durch Staat, Pharmaunternehmen und Träger ergeben. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. wird sich für eine Fortsetzung des Runden Tischs Heimerziehung einsetzen – denn tausende von Heimkindern waren betroffen.

Neben der aus heutiger Sicht falschen Diagnose von Kindern und Jugendlich als „Unerziehbar“ und der darauf folgenden Unterbringung in sogenannten „Bewahranstalten“ war die Kinder- und Jugendpsychiatrie auch an den ethisch fragwürdigen Medikamentenversuchen in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen, Heimen und Anstalten beteiligt und mitverantwortlich für die systematische und flächendeckende Medikation, Sedierung mit Psychopharmaka in Heimen und Anstalten zu rein „pädagogischen“ Zwecken.

Die heutige Kinder- und Jugendpsychiatrie ist sich ihrer historischen Schuld bewusst und beteiligt sich aktiv an der Aufarbeitung und Veröffentlichungen. Diese Vorgeschichte ist für uns eine besondere Verpflichtung für eine ethisch gut beratene Forschung, für den Einsatz für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonventionen und UN-Kinderrechtskonvention. Leitlinie ist dabei „die Gesundheit und das Wohlbefinden“ des Patienten, dessen „Autonomie und Würde“ zu respektieren sind (Genfer Gelöbnis 2017).

Ärztliche Kernpositionen zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform der  Psychotherapeutenausbildung (Drucksache 19/9770)

Wir, die Bundesärztekammer sowie die ärztlichen Berufsverbände und medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften, fordern folgende Änderungen am Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Psychotherapeutenausbildung (Drucksache 19/9770):

  • In § 7 Abs. 2 werden als Ziele des neuen Studienganges u. a. die „Feststellung, Erhaltung, Förderung oder Wiedererlangung der physischen Gesundheit“ benannt. „Feststellung oder Wiedererlangung“ der physischen Gesundheit von Patientinnen und Patienten (§ 7 Abs. 2) muss aus den Zielen gestrichen werden, da ursächlich behandelbare somatische Erkrankungen mit psychischen Folgestörungen im Interesse der Patientinnen und Patienten ärztlich diagnostiziert und angemessen therapiert werden müssen.
  • Die Berufsbezeichnung von Heilberufen muss klar erkennbar machen, welcher Grundberuf erlernt wurde und worin die zusätzlichen Kompetenzen bestehen. Die gewählte Lösung (§ 1 Abs. 1) erfüllt dies nicht, weil für Patienten nicht erkennbar wäre, welche fachliche Qualifikation ein zukünftiger „Psychotherapeut“ im Vergleich zu den bisherigen „Psychologischen Psychotherapeuten“ oder auch „ärztlichen Psychotherapeuten“ mitbringt. Wir schlagen deshalb vor, in allen Gesetzen (insb. auch im SGB V) einheitlich die Berufsbezeichnung „Psychologischer Psychotherapeut“ zu verwenden.
  • Gutachten zu sozialrechtlichen Fragestellungen der Arbeits-, Berufs-, und Erwerbsfähigkeit bei psychischen Störungen setzen den klinischen Erfahrungshintergrund von Krankheitsverläufen voraus (§ 7 Abs. 3 Nummer 5). Gutachterliche Aufgaben können deshalb nur von Postgraduierten mit entsprechender klinischer Weiterbildung kompetent erbracht werden. Aus diesem Grund ist Absatz 3 Nummer 5 ersatzlos zu streichen.
  • Die deklaratorische Regelung zum Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (§ 8) ist unzureichend. Wenn in der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen nur wissenschaftlich begründete Therapieverfahren und -methoden angewendet werden sollen – und die Prüfung auch neuer Verfahren und Methoden dem Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie übertragen werden soll – dann ist eine eindeutige gesetzliche Verankerung dieses Gremiums zwingend.
  • Anders als Medizinstudierende soll die neue Berufsgruppe kein Praktisches Jahr durchlaufen, in dem klinische Fähigkeiten vor Erteilung der Approbation unter Supervision geübt und vertieft werden (§ 9 Abs. 9). Die Erlaubnis zur selbstständigen Ausübung von Heilkunde, und damit z. B. zur Behandlung von selbstzahlenden Patienten, sollte nicht auf dieser Basis erteilt werden. Vor Erteilung einer Approbation sollte, in Analogie zu den Voraussetzungen der ärztlichen Approbation, ein 12-monatiges klinisches Praktikum (Praktisches Jahr) verpflichtend sein, um die entsprechenden Techniken klinisch tätig zu erlernen.
  • Die staatliche Prüfung als Voraussetzung für den Zugang zum akademischen Heilberuf muss zusätzlich eine standardisierte und zentralisierte schriftliche Prüfung (schriftliches Staatsexamen) zur Wissensabfrage enthalten (§ 10 Abs. 4). Ziel ist ein bundesweit einheitlicher Kenntnisstand, der im Interesse der Patientenversorgung eine einheitliche hohe Qualifikation ermöglicht. Eine staatliche Prüfung, die aus einer schriftlichen und praktischen Prüfung besteht, sollte zudem vorgesehen werden, um auch Regelungen zur Anerkennung und Zulassung von Bewerberinnen und Bewerbern aus Nicht-EU-Ländern zu standardisieren.

Gezeichnet von
Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (BKJPP)
Berufsverband der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie e. V. (BPM)
Berufsverband Deutscher Nervenärzte e. V. (BVDN)
Berufsverband Deutscher Psychiater e. V. (BVDP)
Bundesärztekammer (BÄK)
Bundesdirektorenkonferenz – Verband leitender Ärztinnen und Ärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie e. V. (BDK)
ChefärzteInnen der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern (ackpa)
Deutsche Ärztliche Gesellschaft für Verhaltenstherapie e. V. (DÄVT)
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP)
Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e. V. (DGPM)

Gemeinsame Stellungnahme der DGPPN, der DGPM und der DGKJP zum Referentenentwurf für ein Psychotherapeutenausbildungsreformgesetz

Die unterzeichnenden Verbände lehnen den Referentenentwurf als unzureichend ab. Zwar begrüßen wir das Ziel des Referentenentwurfs, eine qualifizierte, patientenorientierte, bedarfsgerechte und flächendeckende psychotherapeutische Versorgung auf dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis zur Verfügung zu stellen, aber die Behandlung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen bedarf einer ganzheitlichen Sicht auf Psyche und Soma, in der die biologischen, die psychischen und die sozialen Aspekte bei der Diagnostik und Therapie berücksichtigt werden. Ärzte, Psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, Pflegefachkräfte, Sozialarbeiter sowie weitere Berufsgruppen arbeiten in dieser Versorgung zusammen, wobei die Koordination und Vernetzung der Arbeit alle Beteiligten vor große Herausforderungen stellt.

Eine Reform, die die Versorgung psychisch und psychosomatisch erkrankter Patienten verbessern will, darf nicht darauf hinauslaufen, dass voneinander getrennte Versorgungsbereiche entstehen oder die Versorgung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen aus dem medizinischen Versorgungssystem ausgegliedert wird. Vielmehr gilt es, im Interesse der Patienten vorrangig die Qualität der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung zu sichern und die Kooperation sowie die Vernetzung der jeweils spezifischen Expertisen der verschiedenen Berufsgruppen weiter voranzubringen. Diesen Zielen wird der aktuelle Referentenentwurf nicht gerecht.

Die drei Fachgesellschaften, die die psychiatrischen, psychosomatischen und kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgebiete vertreten, haben in ihren einzelnen Stellungnahmen aus ihrer spezifischen Perspektive differenziert zum Referentenentwurf Stellung bezogen. Sie lehnen gemeinsam den vorgelegten Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform der Psychotherapeutenausbildung ab und sehen einen erheblichen Überarbeitungsbedarf u. a. in folgenden Punkten:

  • Die Legaldefinition der Psychotherapie soll der Legaldefinition im PsychThG entsprechen. Insbesondere ist die Verpflichtung zur somatischen Abklärung erneut in die Definition aufzunehmen, um zu gewährleisten, dass biologische, psychische und soziale Aspekte sowie ihre Wechselwirkungen ausreichend in der Diagnostik gewichtet werden.
  • Die Ausbildung ist in das Studium der Psychologie zu integrieren, damit eine profunde, wissenschaftlich fundierte Ausbildung erfolgen kann.
  • Die Berufsbezeichnung sollte transparent gestaltet werden (Klinischer Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut), damit auch für den Patienten Transparenz über den Grundberuf und das Kompetenzprofil des Behandlers besteht.
  • Auf die Modellversuchsstudiengänge, die zur Verordnung von Psychopharmaka berechtigen, ist zu verzichten. Dieser Studiengang, der sowohl die physiologischen, pharmakologischen und pathologischen Inhalte für die Indikationsstellung, Verordnung und Überwachung einer Psychopharmakotherapie neben dem im Referentenentwurf skizzierten Wissen/der Kompetenz zur Psychotherapie vermittelt, wird beidem nicht gerecht und birgt große Gefahren für die Patientensicherheit.
  • Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (nach § 11 PsychThG) ist gesetzlich ver-bindlich zu verankern, da ihm eine bedeutende Funktion in der Qualitätssicherung zukommt.
  • Es sind ausreichend praktische Inhalte in die Ausbildung zu integrieren, damit eine basale psychologisch-diagnostische Kompetenz im Rahmen des Studiums erworben werden kann. Hierzu ist die Kooperation mit den medizinischen Fakultäten erforderlich.
  • Es ist eine bundeseinheitliche Prüfung von Wissen und Kompetenz im Anschluss an das Studium notwendig (z. B. durch das IMPP) zur Sicherung der Behandlungsqualität und zur Gewährleistung der Patientensicherheit.

Durch die Konzeptualisierung der Aus- und Weiterbildung im Referentenentwurf werden die Probleme in der Versorgung nicht reduziert, sondern deutlich ausgeweitet. Zu konstruktiven Gesprächen und Lösungen dieser dringenden Problematik stehen die drei Fachgesellschaften gerne zur Verfügung.