Gemeinsames Schreiben von DGKJP, BAG KJPP und BKJPP zum Medikamentenmangel Fluoxetin, welches an den Bundesgesundheitsminister, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, den Medizinischen Dienst und den GKV Spitzenverband ging.

Sehr geehrter Herr Bundesminister Professor Lauterbach,

die Versorgung mit Arzneimitteln von Kindern und Jugendlichen war mehrfach Thema in der Vergangenheit. Nunmehr betrifft dies auch eine der schwächsten und vulnerabelsten Patientengruppen, Kinder mit schweren psychischen Erkrankungen.
Aus vielen Bundesländern wird gemeldet, dass Fluoxetin, das einzige für die Behandlung von mittelgradigen bis schweren depressiven Störungen zugelassene SSRI für Minderjährige, nicht mehr verfügbar ist, weder für ambulante Patient:innen, noch in Krankenhausapotheken.

Ganz abgesehen davon, dass es inakzeptabel ist, wenn ein derartiges Standardmedikament, das seit Jahren off-patent ist, nicht verfügbar ist, so ergeben sich dennoch Möglichkeiten, wie reagiert werden könnte. Dazu müsste jedoch seitens des BMG und ggf. auch der Selbstverwaltung gehandelt werden.:

Niedergelassene Kolleg:innen trauen sich aus Sorge vor Regressen, die neben den sachlich völlig unangemessenen finanziellen Risiken vor allem einen aberwitzigen Schriftverkehr mit den dafür zuständigen Prüfinstanzen auslösen, nicht auf andere verfügbare, aber für die Altersgruppe nicht zugelassene SSRI umzustellen. Auch diese sind off-patent und von den Kosten vergleichbar mit Fluoxetin. In Westfalen–Lippe kam es tatsächlich bereits zu Regressen.

In der neuen S3-Leitlinie Depressive Störungen bei Minderjährigen, die demnächst veröffentlich wird, werden entsprechend der neuesten Evidenz für die Behandlung auch Sertralin, Escitalopram und Duloxetin empfohlen – wie auch in der NICE-Guideline. Es bestehen also Möglichkeiten, doch sind diese mit Regressen bedroht.

Wir appellieren dringend an Sie, eine Entscheidung herbeizuführen, damit psychisch kranke Kinder nicht unnötigen medikamentösen Umstellungen oder gar Wechseln des Behandlungssettings von ambulant in die Kliniken ausgesetzt werden wegen unsinniger und ökonomisch völlig irrelevanter Regressforderungen, sowie, dass die Versorgungssicherheit schnellstmöglich wieder gesichert wird.

Für Rückfragen stehen wir gerne zur Verfügung


Mit freundlichen Grüßen

Für die DGKJP

Prof. M. Romanos

Für die BAG KJPP

Dr. M. Klein

Für den BKJPP

Dr. G. Berg

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) und derDeutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN)

zum Bundesprogramm „Mental Health Coaches“

Bundesjugendministerin Paus hat angekündigt, die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen an Schulen durch Einführung eines Modellprogramms bundesweit zu fördern. „Mental Health Coaches“ werden an 100 Schulen in allen Bundesländern Gruppen-Präventionsprogramme anbieten, „um das Wissen der Schülerinnen und Schüler über mentale Gesundheit zu erweitern und ihre Resilienz zu stärken“.

Die DGKJP und DGPPN nehmen sehr erfreut zu Kenntnis, dass sich in der breiten Öffentlichkeit und in der Politik die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die psychische Gesundheit von jungen Menschen in Deutschland nachhaltig gefährdet ist und dass neben effektiven Therapieangeboten für manifeste Erkrankungen auch frühe Prävention breit in schulischen Strukturen verankert werden muss. Hierbei muss Prävention in den kommenden Jahren deutlich intensiviert und qualitativ hochwertig ausgebaut werden. Insofern ist das Ziel der Initiative „Mental Health Coaches“ grundsätzlich zu begrüßen und das Modellprogramm setzt an der richtigen Stelle an.

Trotz der zu unterstützenden Grundidee greift das Modellprogramm zu kurz und es ist in der gegenwärtigen Konzeption kaum geeignet, die enormen Zukunftsaufgaben zu bewältigen.
Zum einen gibt es in Deutschland über 30.000 weiterführende Schulen, so dass mit der Implementierung von Coaches an etwas mehr als 100 Schulen die erforderliche Flächenwirkung präventiver Maßnahmen keinesfalls gelingen kann. Auch benötigen „Brennpunktschulen“ sicher mehr als nur „Mental Health Coaches“ zur Resilienzförderung. Das Zusammenwirken der „Mental Health Coaches“ mit bereits existierenden innerschulischen Diensten und Disziplinen, wie Schulpsycholog:innen, Schulsozialarbeiter:innen und Jugendsozialarbeiter:innen, wird deklariert, bleibt aber inhaltlich unklar. Zusätzlich ist zu fragen, wie eine Nachhaltigkeit und die Dissemination über die 100 Schulen hinaus gesichert werden soll.
Als wissenschaftliche Fachgesellschaften fordern wir zudem, dass solche Programme auch in ihren Wirkungen evaluiert werden. Nur wenige Präventionsprogramme halten einer kritischen und nach wissenschaftlichen Kriterien ausgerichteten Evaluierung stand, womit der großen Mehrheit der in Anwendung befindlichen Programme die Evidenzbasierung fehlt. Diese ist jedoch zwingende Voraussetzung für effektive Prävention, zumal angesichts limitierter Ressourcen und ökonomischer Zwänge nur die wirksamsten Programme gefördert werden können und sollen. Oft vergessen wird, dass auch Prävention Nebenwirkungen haben kann, so dass durch eine Evaluation gesichert werden muss, dass die Programme nicht stigmatisieren oder gar psychische Störungen befördern und auslösen, anstelle sie zu verhindern. Schließlich kann nur die Evidenzbasierung von Prävention flächendeckend Qualitätsstandards schaffen und den existierenden Fleckenteppich regionaler Maßnahmen eindämmen.

Das Programm des BMFSFJ zeigt auch eine weitere Schwachstelle auf, die in Deutschland bezüglich Ansätzen zur Resilienzförderung in Schulen besteht. Die föderale Struktur verhindert hier regelhaft, dass evaluierte Maßnahmen bundesweit in Schulen verfügbar sind. Auf die Notwendigkeit der Nachhaltigkeit und Orientierung von Angeboten auf die Orte, an denen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ihre meiste Zeit verbringen, wurde von vielen Expert:innen, auch von uns, mehrfach hingewiesen. Herzu ist es auch nötig, dass systemübergreifend gedacht und vor allem gehandelt wird. Wir verweisen hierzu auch auf die Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums zur psychischen Gesundheit und der Denkwerkstatt Jugendgerechte Gesundheitspolitik.
Wir sehen es für die Zukunft als unerlässlich an, dass über einzelne Programme hinaus, eine strukturelle Veränderung hinsichtlich der Prävention erfolgt: in Anbetracht des Fachkräftemangels sollten interdisziplinäre Qualifikationsmaßnahmen aller mit Jugendlichen arbeitenden Fachkräfte zur Psychischen Gesundheit erfolgen, damit Kenntnis der Hilfesysteme entsteht und eine Vermittlung in Hilfestrukturen leichter gelingt, und es bedarf niedrigschwelliger evidenzbasierter Angebote für Kinder und Jugendliche.
Ohne eine grundsätzliche Änderung im Bereich Schule bundesweit wird sich für Kinder und Jugendliche durch Einzelprogramme und –projekte nichts ändern. So sehr die föderale Struktur ein hohes Gut ist, so sehr führt sie im Bereich der Schule, und damit einem der wichtigsten Lebensbereiche von Kindern und Jugendlichen, zu ungleichen Chancen. Die divergenten Schulformen, Systeme und Hilfsstrukturen in den jeweiligen Bundesländern führen auch zu erheblichen Bildungshürden und Benachteiligungen für mobile Kinder und Familien in Deutschland. Eine Harmonisierung der Strukturen muss dann auch eine engere Kooperation und Abstimmung in der Umsetzung von evidenzbasierten Präventionsprogrammen implizieren.

Daher ist anlässlich der Initiative des BMFSFJ von den Ländern zu fordern:

  • Eine konstruktive Nutzung der kultusministeriellen Länderhoheit zur Harmonisierung der Schulsysteme und Selbstverpflichtung zur systematischen nationalen Konvergenz anstelle weitergehender Differenzierung.
  • Die flächendeckende Sicherstellung der Verfügbarkeit der existierenden Hilfesysteme, insbesondere der Ausbau und Qualifizierung der schulpsychologischen Dienste und der Schulsozialarbeit.

Von den Bundes- und Landesministerien, den Krankenkassen sowie Fördereinrichtungen ist zu fordern:

  • Die Aufsetzung von langfristigen Förderlinien zur Generierung und Evaluierung qualitativ hochwertiger Prävention zu Verbesserung der psychischen Gesundheit und Resilienzförderung junger Menschen in Deutschland und Finanzierung der Disseminierung von evidenzbasierten Präventionsprogrammen

Berlin, 27. September 2023

Stellungnahme der DGKJP zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit zum Entwurf eines „Gesetzes zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz – DigiG)“
 
Sehr geehrte Frau Ministerialrätin Brandenburg,
 
hiermit erhalten Sie die Stellungnahme zum o.g. Gesetz aus Sicht der wissenschaftlichen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 
 
Grundsätzlich besitzen digitale Gesundheitsanwendungen mit ihren Möglichkeiten aber auch Herausforderungen eine hohe Relevanz für die Weiterentwicklung von Prävention, Diagnostik und Behandlung von psychischen Erkrankungen. Da Kinder und Jugendliche sowohl im Vergleich der Altersgruppen digital besonders affin als auch kompetent im Umgang sind, messen wir als wissenschaftliche Fachgesellschaft dem Entwurf hohe Bedeutung bei. 
 
Die weitere Stärkung der Digitalisierung des Gesundheitswesens bietet das Potential, Versorgungsdefizite bei psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen zu verbessern, sowohl im niederschwelligen Zugang zu qualifizierten Angeboten per Telemedizinischer Angebote, als auch hinsichtlich der Förderung eigener krankheitsbezogener Kompetenzen durch beispielsweise Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGa).
 
Das Gesetz adressiert unter anderem auch wesentliche kritische Bereiche in der Digitalisierung von Gesundheitsversorgung. Dazu zählt zuvorderst die Sicherung der Qualität der Angebote. Dies umfasst zwingend die Darlegung von Effektivität als auch potentiellen unerwünschten Wirkungen bei DiGa, da nur so eine ausreichende Risikoeinschätzung in der Verordnung und Anwendung erfolgen kann. Des Weiteren ist die Gewährleistung der Datensicherheit ein übergreifendes Thema, welches bundeseinheitlich definierter und laufend aktualisierter Sicherheitsstandards bedarf. Ebenso ist die Schnittstellenthematik für den sektorübergreifenden Datenaustausch zwingend bundeseinheitlich durch eine definierte und beauftragte Institution zu kuratieren. 
 
Im Folgenden gehen wir im Einzelnen auf die im Gesetz adressierten Maßnahmen ein:
 
Weiterentwicklung der ePa
Die im Gesetz vorgesehene Weiterentwicklung der ePA wird begrüßt, insbesondere die Entwicklung und Etablierung einer ePKA ist für den Versorgungsalltag als ein sinnvoller und wirksamer Baustein in der sektorenübergreifenden Versorgung einzuschätzen. Nach wie vor haben wir aber keine Antwort darauf erhalten ob die Sorgeberechtigten oder die jugendlichen Patient:innen selbst über die Inhalte und die Freigabe der Daten in der ePKA verfügen dürfen. 
 
Weiterentwicklung des E-Rezepts
Die Weiterentwicklung von E-Rezepten ist ebenfalls als eine Erleichterung im Versorgungsalltag zu begrüßen. Aus dem vorliegenden Gesetzesentwurf geht nicht hervor, ob die neue Ausarbeitung des E-Rezeptes auch eine Lösung zur Verordnung von Betäubungsmitteln berücksichtigt. Signifikante Verordnungszahlen von Betäubungsmitteln betreffen im Bereich der psychischen Erkrankungen in erheblichem Umfang von ADHS betroffene Patient:innen. Sofern auch an eine Verordnung von Betäubungsmitteln mittels E-Rezept gedacht ist, würde dieses besonderer Absicherungen bedürfen. Hierzu bedürfte es eigener, fachlich fundierter Beratungen.
 
Weiterer Ausbau der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGa) 
Vor dem Hintergrund, dass die Wirksamkeit der aktuell verfügbaren DiGa für den Bereich der seelischen Gesundheit nach wie vor nur in wenigen Fällen erwiesen ist, betrachten wir die Einführung qualitätsbezogener Faktoren als längst überfällig. 
Wir verweisen diesbezüglich auf unsere ausführliche Stellungnahme vom Februar 2020, in der wir klar ein Vorgehen analog der Zulassung von Pharmaka gefordert haben, um unwirksame DiGa nicht in die Anwendung zu bringen, zum einen um möglichen Schaden von den Patient:innen abzuwenden ebenso wie das Gebot der Wirtschaftlichkeit  zu erfüllen.
Auch die Betrachtung von potentiellen unerwünschten Wirkungen durch DiGa sehen wir in dem aktuellen Gesetzentwurf ungenügend abgebildet. 
Aktuell ist ein iterativer Prozess der Qualitätsentwicklung in der laufenden Anwendung vorgesehen. Wir halten dies angesichts der potentiellen gesundheitlichen Folgen für die Anwender:innen für nicht vertretbar und fordern die Erbringung von Wirksamkeitsstudien (einschließlich der Erfassung unerwünschter Wirkungen) durch die Anbieter. Dabei sind die qualitativen Mindeststandards analog der Zulassungsverfahren von Pharmaka zu erfüllen.  
 
Weiterentwicklung von Videosprechstunden und Telekonsilen
Die Weiterentwicklung von Videosprechstunden und Telekonsilen als ein fester Bestandteil in der Versorgung ist ein wichtiger Baustein unseres Gesundheitssystems. Dies ist insbesondere für Menschen mit erschwertem Zugang zu Versorgungsstrukturen eine notwendige Maßnahme, um Versorgungsgerechtigkeit herzustellen. Hier sind unter anderem Menschen zu nennen, die ohne Telemedizinische Angebote auf die Dienste Dritter angewiesen sind, wie ältere Menschen oder auch Kinder und Jugendliche in ländlichen Regionen. Insbesondere in der sprechenden Medizin besteht auch eine wissenschaftlich klare Datenlage für die grundsätzliche Wirksamkeit von Telemedizinischer Versorgung. Die im Entwurf vorgesehene breitere Anwendungsmöglichkeit telemedizinischer Angebote ist daher klar zu begrüßen. Allerdings erscheint die Festlegung auf maximal 30 Prozent nicht der bestehenden Datenlage angemessen und baut Versorgungsbarrieren in der Erreichbarkeit nicht ausreichend ab. 
Wir regen daher auch vor dem Hintergrund der aktuellen erheblichen Bedarfslage in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung an, die Beschränkung der maximalen Anwendung von telemedizinischer Versorgung auf 80 Prozent zu erhöhen und dadurch festzulegen dass patientenbezogen jeder 5. Kontakt in einem face-to-face Termin stattfindet. 
 
An dieser Stelle möchten wir explizit darauf hinweisen, dass in den Ausbau der telemedizinischen Versorgung explizit die Krankenhäuser und die psychiatrischen Institutsambulanzen einbezogen werden müssen, da ihre Versorgungsrelevanz auch in der ambulanten Versorgung stetig anwächst. Auch regionale und überregionale Spezialexpertisen von Krankenhäusern können so Patient:innen leichter zugängig gemacht werden. 
 
Analog sollten zur Nutzung von Fachexpertise dringend Telekonsilien auch zwischen Krankenhäusern und sektorenübergreifend zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Vertragsärzten und -psychotherapeuten ermöglicht und mit einer kostendeckenden Vergütung versehen werden. Daraus würde auch eine Bereicherung stationärer und teilstationärer Behandlungen erwachsen.
 
Wir begrüßen ausdrücklich die geplante Qualitätsorientierung sowohl bei Videosprechstunden als auch bei Telekonsilien. Dabei bleibt jedoch das Vorgehen zur Erstellung von validiertem Vorgehen und Behandlungspfaden unklar. Die Formulierung der Übertragung von Implementierung und Überwachung dieser Qualitätskriterien auf die „Institutionen der Selbstverwaltung“ ist ungenau Wir regen daher dringend an, eine konkrete bundesländerübergreifende Institution mit der Erstellung dieser Qualitätsmerkmale zu beauftragen.
 
Digitale Weiterentwicklung von strukturierten Behandlungsprogrammen
Die im Gesetz vorgesehene Augmentierung durch digitale Behandlungselemente der strukturierten Diabetes-mellitus-Behandlung als erster use-case ist zu begrüßen.
 
Verbesserung der Interoperabilität
Die Verbesserung der Interoperabilität ist ein Kernelement in der Erschließung digitaler Techniken in der Gesundheitsversorgung. Eine durch den Gesetzgeber stringentere Vorgabe ist daher ausdrücklich zu begrüßen.
 
Erhöhung der Cybersicherheit
Die Verbesserung der Cybersicherheit durch Erhöhung der Datenkompetenz von Nutzer:innen ist ein wichtiger Ansatz. Dabei sollten in der Umsetzung die unterschiedlichen Bedarfe in der Erreichbarkeit klar adressiert werden. Die zu vermittelnden Inhalte müssen für Jugendliche anders aufbereitet und zur Verfügung gestellt werden als beispielsweise für Senioren. Menschen mit speziellen Einschränkungen sind hier ebenso einzubeziehen, da ansonsten eklatante Unterschiede und Ungerechtigkeiten in der Datenmächtigkeit der Nutzer:innen entstehen. Wir regen daher dringend an, diese differenzierte Sicht auf die zu entstehenden Angebote im Gesetzestext zu verankern.
 
Neben dem aktuellen Gesetzesvorhaben melden wir aus zahlreichen Gesprächen mit Ärzt:innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen zurück, dass hinsichtlich der Sicherheit der Daten eine enorme Verunsicherung besteht und daher Weiterentwicklungen digitaler Gesundheitstechnologien aktuell häufig nicht in die Anwendung kommen. Die Erstellung einer zentralen Datenverarbeitungslösung, die auf Bundesebene einheitlich zur Verfügung gestellt wird, würde die Sicherheit bei den professionellen Nutzer:innen erheblich erhöhen und ein erhebliches Hemmnis in der Entwicklung der digitalen Gesundheitsversorgung abbauen. 
 
Verstetigung und Weiterentwicklung des Innovationsfonds
Die Verstetigung des Innovationsfonds wird ausdrücklich begrüßt. Insbesondere die vorgesehene Flexibilisierung der Förderformate und Nutzung einstufiger Verfahren lässt erwarten, dass innovative Versorgungsansätze agiler umgesetzt werden können und sich als wirksam erweisende Projekte leichter in Eingang in die Versorgung finden.
 
Wir halten das Gesetzesvorhaben für einen wichtigen weiteren Schritt im Prozess der notwendigen Digitalisierung des Gesundheitswesens und freuen uns, wenn wir als DGKJP einen Beitrag zur gelingenden Gesetzesfassung beitragen können. 
 
Für weitere Rückfragen stehen wir gerne zur Verfügung.
 
 
Mit freundlichen Grüßen
 
Prof. Dr. M. Romanos
Präsident
 
Prof. Dr. T. Renner
stellv. Präsident
 
Prof. Dr. R. Schepker
Vorstandsmitglied

Gemeinsame Stellungnahme
der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP),
der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ),
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BAG KJPP),
des Berufsverbands für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP) und
des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ)
zum
„Entwurf eines Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz – CanG)“

Wir lehnen den Referentenentwurf eines „Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz – CanG)“ entschieden ab. Aus Sicht von DGKJP, DGKJ, BAG KJPP, BKJPP und BVKJ führen die Legalisierungspläne der Bundesregierung zu einer Gefährdung der psychischen Gesundheit und der Entwicklungschancen junger Menschen in Deutschland. Der aktuelle internationale Forschungsstand weist darauf hin, dass eine Legalisierung gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu erhöhtem Konsum und den damit verbundenen Gesundheitsschäden sowie zu einer verminderten Risikowahrnehmung gegenüber den Gefahren des Konsums beiträgt. Der Internationale Suchtstoffkontrollrat (INCB) der Vereinten Nationen hat in Kenntnis der Studienlage jüngst dringend von weiteren Legalisierungsbestrebungen abgeraten. Die Kriminalität wird mit der Legalisierung nicht eingeschränkt. Positive Effekte für den Jugendschutz sind mit den Legalisierungsplänen nicht zu erwarten, da Kinder und Jugendliche vor einem deutlich erweiterten Markt und den damit verbundenen konsumpermissiven Einstellungen nicht wirksam geschützt werden können. Die ursprünglich im Koalitionsvertrag im Jahr 2021 zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vereinbarten Ziele, mit der „kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken“ die Qualität der Produkte zu verbessern, die Weitergabe verunreinigter Produkte zu verhindern und den Jugendschutz zu gewährleisten, werden mit den im Referentenentwurf genannten Plänen nicht erreicht.

Zum Gesetzesentwurf
Mit dem Gesetz soll ein verbesserter Kinder-, Jugend- und Gesundheitsschutz erzielt, die cannabisbezogene Aufklärung und Prävention gestärkt und der illegale Markt für Cannabis eingedämmt werden. Die Qualität von Cannabis soll kontrolliert und die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert werden. Dadurch sollen Konsumierende besser geschützt werden (§ 1 Ziele).

Mit dem Cannabisgesetz ist vorgesehen, Cannabis-Anbau in Vereinen, denen bis zu 500 Mitglieder angehören, zu gestatten. Weiterhin soll privater Eigenanbau von drei blühenden Pflanzen zugelassen werden. Vorgesehen ist die Abgabe von jeweils bis zu 25 g Cannabis an erwachsene Mitglieder, beschränkt auf maximal 50 g pro Monat, sowie zusätzlich bis zu 7 Samen oder 5 Stecklinge pro Monat. Für Heranwachsende unter 21 Jahren soll die monatliche Abgabe auf 30 g beschränkt werden sowie auf Produkte mit einem THC-Gehalt von nicht höher als 10 Prozent. Straffreier Besitz zum Eigengebrauch (Mitführen in der Öffentlichkeit) ist bis zu 25 g gestattet. Es gelten weiterhin Strafvorschriften für darüber hinaus gehenden Handel und Abgabe an Nicht-Mitglieder sowie die Weitergabe an Kinder und Jugendliche, bzw. von nicht in Vereinen angebautem Cannabis. Zurückliegende Verurteilungen, die sich ausschließlich auf Handlungen im Zusammenhang mit Cannabis beziehen und für die künftig keine Strafe mehr vorgesehen ist, sollen auf Antrag aus dem Bundeszentralregister gelöscht werden. Laufende Ermittlungs- und Strafverfahren zu diesen Handlungen werden mit Gültigkeit des Gesetzes eingestellt.

Im Gesetzentwurf werden Maßnahmen zum Jugendschutz deklariert. Kindern und Jugendlichen soll auch weiterhin verboten bleiben, Cannabis anzubauen, zu kaufen, zu besitzen und zu konsumieren. Bei Verstoß des Verbots sollen fortan keine strafrechtlichen Sanktionen mehr erfolgen, sondern stattdessen sollen Jugendliche, die gegen dieses Verbot verstoßen, durch Polizei und Ordnungsbehörden an das zuständige Jugendamt vermittelt werden. Anstelle einer strafrechtlichen Verfolgung sollen Jugendliche verpflichtet werden, an geeigneten Frühinterventionsprogrammen teilzunehmen (S. 89, B, zu Kap. 2, § 7).

Jede Anbauvereinigung müsse der lizenzgebenden Stelle ein geeignetes Gesundheits- und Jugendschutzkonzept vorlegen (§ 20, § 23). Der Zugang zu Anbauvereinigungen und Abgabestellen soll Kindern und Jugendlichen durch Alterskontrollen verwehrt werden.

Cannabiskonsum soll an Orten, an denen sich Kinder und Jugendliche regelmäßig aufhalten, verboten sein. Es sollen sogenannte „Schutzzonen“ in einem Umkreis von 200 m eingerichtet werden, beispielsweise im Eingangsbereich von Kinder- und Jugendeinrichtungen, Schulen, öffentlichen Kinderspielplätzen und Sportstätten. Je nach den örtlichen Gegebenheiten sollen auch sonstige öffentliche Orte, an denen sich Kinder und Jugendliche regelmäßig aufhalten vom Konsumverbot erfasst werden. Die Abstandsregelungen sollen verhältnismäßig sein und von Polizei und Ordnungsbehörden praktikabel geregelt werden können (S. 88f, B, zu Kap. 2, § 5, Abs. 2).

Der Zugriff durch Kinder und Jugendliche auf (geerntetes) Cannabis von Cannabispflanzen im Eigenanbau soll durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen verhindert werden, etwa durch Sicherung von Grow-Boxen, mechanische oder elektronische Verriegelungsvorrichtungen, Verwahrung in kindersicheren Behältnissen, Räumen oder Schränken. Bei Verstößen durch Sorgeberechtigte gegen das Verbot der Weitergabe von Cannabis an Kinder und Jugendliche sollen familiengerichtliche Maßnahmen eingeleitet und Verstöße außerdem als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden können (S. 92, B, zu Kap. 2, § 10, Abs. 1).

Im Gesetzentwurf wird die Stärkung von Prävention angekündigt. Präventionsangebote für Jugendliche und junge Erwachsene sollen deutlich ausgeweitet werden. Dabei sollen die Lebenswelten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Schulen, Berufsschulen, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, Sportvereinen, der Arbeitswelt sowie in Einrichtungen, die mit kognitiv eingeschränkten Personen arbeiten, Berücksichtigung finden. Die Finanzierung dieser Maßnahmen könne über die gesetzlichen Krankenversicherungen gem. § 20a, SGB V, erfolgen (S. 91, B, zu Kap. 2, § 8, Abs. 1).

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) soll evidenzbasierte und qualitätsgesicherte Materialien, Leitfäden oder Handreichungen bereitstellen. Über solches Aufklärungsmaterial hinaus sollen cannabisbezogene Präventionsmaßnahmen der BZgA unter Berücksichtigung einer zielgruppenspezifischen Ausrichtung (konsumunerfahrene Personen, Vielkonsumierende, Erziehungsberechtigte, Schwangere, Verkehrsteilnehmende, Ältere) ergänzt und ausgeweitet werden. Durch früh ansetzende Präventionsprogramme könnten Kindern Kompetenzen vermittelt werden, „die Ihnen später einen verantwortungsvollen Umgang mit Suchtmitteln ermöglichen“. Das Angebot an entsprechenden frühen Präventionsmaßnahmen soll ausgebaut werden (S. 90, B, zu Kap. 2, § 8, Abs. 1).

Im Gesetzentwurf in der Fassung vom 28.04.2023 wurde die Stärkung von Präventions- und Suchtforschung angesprochen. Es gebe erheblichen Forschungsbedarf im Bereich der cannabisbezogenen Präventions- und Suchtforschung. Dafür stelle das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) entsprechende Mittel zur Verfügung (§ 7, Abs. 2). In der jetzt vorliegenden Fassung vom 05.07.2023 fehlt dieser Hinweis. Es wird nun angemerkt, das BMBF solle prüfen, „inwieweit Daten, die im Rahmen der Evaluation erhoben werden der wissenschaftlichen Gemeinschaft für über die Evaluation hinausgehende Auswertungen und Forschungen zentral zur Verfügung gestellt werden können.“ (S. 80, VII, Befristung; Evaluierung).

Stellungnahme
In einer Stellungnahme des International Narcotics Control Board (INCB) der Vereinten Nationen vom 9. März 2023 wird mit Blick auf die stark variierenden Ausgestaltungen der Legalisierungsansätze in verschiedenen Staaten festgestellt, dass die staatlichen Ziele der Legalisierung nicht erreicht werden würden. Die erhöhte Erreichbarkeit von Cannabis gehe mit der Abnahme der Wahrnehmung von Risiken einher. Die Legalisierung von nichtmedizinischem Cannabis führe zu erhöhtem Konsum sowie vermehrten Gesundheitsschäden. In Legalisierungsstaaten werde ein Anstieg der Notfallbehandlungen und Verkehrsunfälle verzeichnet. Die Kriminalität werde nicht einschränkt.

Die Kinder- und Jugendpsychiater:innen und -psychotherapeut:innen und die Kinder- und Jugendärzt:innen in Deutschland haben in einem gemeinsamen Statement der Fachgesellschaften und Verbände vor den möglichen Risiken einer Cannabislegalisierung gewarnt und appelliert, etwaige Legalisierungsbeschränkungen nicht auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen auszutragen (www.dgkjp.de/Cannabislegalisierung/). Alle Vorsätze, die Legalisierung mit einem bestmöglichen Jugendschutz zu verbinden, hätten sich in vielen Legalisierungsländern als Illusion erwiesen. Bereits die gesellschaftliche Debatte um eine Abgaberegulierung von Cannabisprodukten habe ungünstige Effekte auf das Konsumverhalten junger Menschen. Suchtprävention habe in der Vergangenheit erwünschte Effekte gezeigt, wenn sie auf eine strikte Angebotsreduzierung zielt. Den Markt suchterzeugender Substanzen zu erweitern und auf eine schadenbegrenzende Beeinflussung von Gefährdeten und Konsumierenden durch Verhaltensprävention zu setzen, habe sich demgegenüber als kaum wirksam herausgestellt.
Allenfalls die verpflichtende Teilnahme an Frühinterventionsprogrammen anstelle einer strafrechtlichen Verfolgung von Kindern und Jugendliche, die nach diesem Gesetzentwurf auch weiterhin kein Cannabis besitzen und konsumieren dürfen, ist aus unserer Sicht ein richtungsweisender Ansatz.

Die Forderungen der Suchtfachgesellschaften (DG-Sucht, DGS, dgsps) und der DHS (vgl. „Positionspapier zur kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken“DG-Sucht, DGS, dgsps, & DHS, 2022) werden mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung überwiegend nicht berücksichtigt: (a) Priorisierung und Ausbau der Jugendschutzes sowie Maßnahmen der strukturellen Prävention durch Begrenzung von Öffnungszeiten und Anzahl der Verkaufsstellen, legale Abgabe von Cannabis erst ab dem 21. Lebensjahr, Mengenbegrenzungen beim Verkauf sowie Begrenzung der THC-Gehalte in Produkten bei 15 Prozent, Verbot jeglicher Werbung, Produktanbau und Vertrieb allein durch staatliche Stellen, (b) konsequente Unterbindung illegalen Handels, (c) Verwendung der Steuereinnahmen für verbesserte und zusätzliche Maßnahmen in Prävention, Früherkennung, Frühintervention, Beratung, Begleitung und Behandlung, Versorgungs- und Therapieforschung im Bereich der cannabisbezogenen Störungen, (d) Erweiterung des bundesweiten Drogen- und Gesundheitsmonitorings sowie (e) Einrichtung einer ständigen Expert:innengruppe als Beratungsgremium der Bundesregierung.

Zusammenfassend kann festhalten werden, dass aus Sicht der Suchtprävention mit der Abgaberegulierung und der Markterweiterung für Cannabisprodukte zum nichtmedizinischen Gebrauch ein falsches Signal gesetzt wird. Die Änderungen in der Drogenpolitik tragen zur Verharmlosung der gesundheitlichen Gefahren, negativen Folgen und Langzeiteffekte des Cannabiskonsums bei. Die Risikowahrnehmung in der Bevölkerung für die gesundheitsgefährdenden Effekte des Konsums nimmt ab. Da Entwicklungs- und Reifungsprozesse und insbesondere auch die Hirnreifung bis über die Mitte der dritten Lebensdekade hinausreichen, sind Abgaberegulierungen mit Altersbegrenzungen bei 21 oder gar 18 Jahren aus entwicklungs-(neuro-)biologischer Sicht nicht plausibel. Darüber hinaus zeigt sich in den USA und in Kanada, dass die mit der Legalisierung angestrebte Austrocknung des Schwarzmarktes nicht gelingt. Konsumierende beschaffen sich die Cannabisprodukte zu einem nicht geringen Anteil auch weiterhin über illegale Quellen. Insbesondere jüngere Konsumentengruppen nutzen die Schwarzmarktprodukte bevorzugt. Neben dem fortbestehenden Schwarzmarkt erweisen sich Probleme mit Zwischenhandel, Schmuggel und Betrug bisher als weitgehend unlösbar. So darf auch bezweifelt werden, ob die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Regulierungen für Anbauvereinigungen sowie die Vorschriften für den privaten Eigenanbau tatsächlich umgesetzt und deren Einhaltung von den regionalen Behörden angemessen kontrolliert werden können. Die dargestellten Maßnahmen zum Jugendschutz (Abstandsregelungen, privater Eigenanbau und Konsum in Haushalten) werden aller Voraussicht nach schwer kontrollierbar sein und durch die psychologischen Effekte eines allgegenwärtigen Cannabiskonsums (in Parks, Freizeiteinrichtungen, Fußgängerzonen ab 20 Uhr usw.) überstrahlt werden.

Kommentar zu einzelnen Ausführungen
Es wird im Gesetzentwurf dargelegt, dass mit der Begrenzung der Abgabemengen auf 25 g Cannabis pro Tag bzw. 50 g pro Monat die Suchtrisiken der Mitglieder verringert werden würden. Die Begrenzung des THC-Gehaltes auf 10 Prozent für die unter 21-Jährigen sowie die damit verbundenen Alterskontrollen und Produktdeklarationen seien „ein deutliches Signal an Heranwachsende, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit Cannabis für sie besonders wichtig ist“ (S. 110, B, zu Abschn. 3, § 19, Abs. 3).

Hierzu ist festzustellen, dass Cannabisabhängige im Jugend- und jungen Erwachsenenalter in der Regel zwischen 1 g und 2 g Cannabis pro Tag konsumieren und die vorgesehene Abgabemenge den üblichen Bedarf von behandlungsbedürftigen Abhängigen deckt. Dass Suchtrisiken mit der Mengenbegrenzung verringert werden würden, ist nicht plausibel.

Es wird dargelegt, dass bei Kindern und Jugendlichen die Gehirnentwicklung noch nicht abgeschlossen sei. Daher seien Jugendliche, die Cannabis konsumieren, von besonderen gesundheitlichen Risiken bedroht. Es könnten „bleibende Einschränkungen der Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistung resultieren“ sowie „ein erhöhtes Risiko, eine Cannabisgebrauchsstörung zu entwickeln“ (S. 110, B, zu Abschn. 3, § 19, Abs. 3).

Hierzu ist festzustellen, dass die gesundheitlichen Risiken deutlich über die Einschränkungen der Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistung hinausgehen. Experimentelle Studien weisen auf Störungen der Myelinisierung infolge epigenetischer Effekte der Cannabinoide hin. Die klinische Forschung belegt ungünstige Einflüsse intensiven Cannabiskonsums auf Gedächtnis-, Lern- und Erinnerungsleistungen, Aufmerksamkeit, Problemlösen, Denkleistung und Intelligenz. Diese Effekte sind in Kongruenz mit dem Nachweis altersabhängiger struktureller und funktioneller Veränderungen im Bereich der grauen und weißen Hirnsubstanz bei Cannabiskonsumierenden in der Adoleszenz zu bewerten. Bei vulnerablen Personen besteht darüber hinaus ein dosisabhängiger Zusammenhang mit depressiven Störungen, Suizidalität, bipolaren Störungen, Angsterkrankungen sowie zusätzlichem Missbrauch von Alkohol und anderen illegalen Drogen. Cannabiskonsum kann bei vulnerablen Personen Psychosen auslösen und den Verlauf schizophrener Psychosen deutlich verschlechtern. Intensiv Cannabiskonsumierende brechen häufiger die Schule ab und weisen ungünstigere Bildungsabschlüsse als Nichtkonsumierende auf.

In § 8 wird die Notwendigkeit einer Stärkung von Prävention zu Recht angekündigt, es bedarf jedoch an dieser Stelle dringend weiterer Konkretisierung. Um wirklich wirksamen präventiven Jugendschutz gegen chronischen Cannabiskonsum zu bewirken, bedarf es insbesondere früher Präventionsangebote. Unter anderem einer fortlaufenden Intervention bei den unter 12 – jährigen Kindern in speziell durch Suchtkrankheit belasteten Familien. Denn deren Risiko liegt zehnfach höher, mit frühem Eintrittsalter (vor dem 14. Lebensjahr) dauerhaft in gefährliche Konsummuster zu geraten. 1 Dies betrifft in Deutschland ca. 2,6 Millionen Kinder und Jugendliche.

Daneben sollte die aufsuchende Aufklärungsarbeit insbesondere in den Schulen und Lebensbereichen der Jugendlichen (Peer-Education), aber auch über soziale Medien/ Influencer verbessert werden. Dabei sollte der Focus auf der Stärkung der Resilienz von Jugendlichen liegen.

Auch ist die Finanzierung wirksamer Frühinterventionen auf eine verlässliche finanzielle Basis zu stellen. Bestehende Mittel müssen dringend aufgestockt werden. Der Hinweis auf Mittel der Krankenkassen zur Prävention in Lebenswelten (§ 20a SGB V) ist sachgerecht muss aber präzisiert werden. Es ist gleichzeitig bedauerlich, dass die formulierten Maßnahmen zur Prävention nicht substanzübergreifend mit dem bestehenden Jugendschutzgesetz gegen den Alkoholkonsum verknüpft wurden.

Der Anstieg des Cannabiskonsums in Kanada wie in den USA nach der Legalisierung ist u.a. auf die erhebliche Zunahme des Konsums essbarer THC – haltiger Produkte in der erwachsenen Bevölkerung zurückzuführen. Dass der Gesetzentwurf die Expertenhinweise auf die Gefahren sogenannter „edibles“ gerade in Haushalten mit Kleinkindern ernstnimmt und diese weiterhin verbietet, ist ausdrücklich zu begrüßen.

Dass eine verbindliche fortlaufende Begleitforschung insbesondere in Bezug auf die Auswirkungen auf den Konsum und die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen vorgesehen ist, ist zu begrüßen. Es sollten weiterhin klare Konsequenzen für notwendige Maßnahmen zum Gesundheitsschutz definiert werden, wenn die Evaluation nicht die von der Legalisierung erhofften Ergebnisse ausweist.
Im Gesetzentwurf werden die Angaben zur Abstandsregelung für sogenannte „Schutzzonen“ nicht einheitlich benannt. Teilweise werden 200 Meter „Luftlinie“ vorgeschrieben und an anderer Stelle 250 Meter.

Eine vermutlich nicht intendierte Formulierung findet sich auf Seite 82 (B, zu § 1, Nummer 7) des Gesetzentwurfes: „Auch dann handelt es sich um Nutzhanf, da sich das Cannabis lediglich zu industriellen bzw. gärtnerischen, jedoch nicht zu Suchtzwecken eignet“.

Berlin, 24.07.2023

1 Eine ab Geburt durchgeführte Langzeitstudie aus Großbritannien mit > 5000 Teilnehmenden bis zum 18. Lebensjahr hat dies nachdrücklich gezeigt (Lindsey A Hines et al., “Adverse childhood experiences and adolescent cannabis use trajectories: findings from a longitudinal UK birth cohort” in www.thelancet.com/public-health Vol 8 june 2023: e442-e452).

Stellungnahme der DGKJP zum Referentenentwurf des BMFSFJ und des BMJ zum „Gesetz [..] über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften“

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) hatte gemeinsam mit den beiden kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbänden bereits am 19. September 2022 das „Eckpunktepapier“ der Koalitionsparteien kommentiert. Basierend auf den damaligen Kommentaren finden Sie unsere Stellungnahme zu dem o.g. Gesetz wie folgt:

Zu § 1 Punkt 2 Absatz 2
Wir begrüßen ausdrücklich, dass unsere Position, keinen Automatismus bezüglich geschlechtsangleichender medizinischer Maßnahmen herzustellen, in der Präambel zum Referentenentwurf explizit aufgegriffen worden ist.
Zur Trennung des Personenstandseintrags von medizinischen Maßnahmen gehört auch, dass für den juristischen Schritt einer Änderung des Geschlechtseintrages keine medizinischen Dokumente mehr vorgelegt werden müssen. Durch die Möglichkeit der Personenstandsänderung bei unter 18-jährigen kann zunächst in einer sozialen Transition Rollensicherheit und -klarheit von Jugendlichen und ihrer sozialen Umgebung entwickelt und eine neue Identität erprobt werden. Zur Erhöhung der Sicherheit etwaiger medizinischer Behandlungsentscheidungen in diesem Feld sind möglichst ungehinderte und diskriminierungsfreie soziale Alltagserfahrungen Jugendlicher im gelebten Geschlecht, welches ihrer empfundenen Identität entspricht, wichtig.


Zu § 2 Punkt 2 Absatz 4
Wir begrüßen die Möglichkeit, auch nur den Vornamen neu zu bestimmen. Das entspricht besonders den Bedürfnissen der jüngeren Altersgruppe, eine möglicherweise überbrückende und einfache „kleine Lösung“ zu wählen, die sich auf eine Änderung des Vornamens beschränkt.

Zu § 3 Absatz 1
Das Familiengericht soll künftig die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters von über 14jährigen ersetzen können, wenn die Änderung des Geschlechtseintrags oder der Vornamen dem Kindeswohl nicht widerspricht. Wir hatten bereits in unserer Kommentierung vom 19.9.2022 erklärt: „Eine abstrakte Orientierung am Kindeswohl in komplizierten Fällen, die ggfs. das Recht des Kindes gegen die eigenen Eltern durchsetzt, wird der Entwicklung des Jugendlichen und einer Familie nicht helfen, wenn dies zum Verlust der familiären Bindungen führt.“
Daher begrüßen wir, dass auf Seite 26 (und Seite 37) der Gesetzesbegründung „der Zugang zu einer sachkundigen, ergebnisoffenen und kostenlosen Beratung ermöglicht wird“ und dass „die Bundesregierung beabsichtigt, die Beratungsangebote insbesondere für minderjährige Personen auszubauen und zu stärken.“ Jedoch vermissen wir in der Aufzählung der Gesetzesbegründung die professionelle kinder- und jugendpsychiatrische und –psychotherapeutische Beratung und Prozessbegleitung des gesamten Familiensystems. In aller Regel werden die betroffenen Kinder und Jugendlichen bereits Kontakt zu den existierenden interdisziplinären Zentren aufgenommen haben. Eine Entkoppelung der Beratung zum Personenstandseintrag bzw. Vornamensänderung und der Gesamtsituation des Kindes oder Jugendlichen halten wir nicht für zielführend – auch aus entwicklungspsychologischen Gründen und Kindeswohlaspekten. Gerade die familiäre Gesamtsituation ist in diesem Altersabschnitt, anders als bei Erwachsenen, für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen immer zu beachten. Wir fänden es daher sinnvoll, hier die Beteiligung von und Beratung durch spezialisierte Ärztinnen und Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie zu ergänzen.
Der Gesetzgeber möchte sich von bisherigen Zwangsberatungen laut Gesetzbegründung distanzieren. Im Fall, dass im Sinne des § 3 (1) der gesetzliche Vertreter dem Wunsch des Jugendlichen nicht zustimmt, fänden wir jedoch den einen Hinweis auf Beratungsangebote angemessen:

Wir schlagen daher folgenden Zusatz als Satz 3 vor: „Das Familiengericht hat im Falle des Satzes 2 auf die Inanspruchnahme von Beratungsangeboten hinzuwirken.“


Zu § 3 Absatz 2
Vor dem 14. Lebensjahr soll im Sinne aller bisheriger Elternrechte und -pflichten nur der gesetzliche Vertreter eine entsprechende Erklärung abgeben können.
Bei Kindern vor Eintritt der Pubertät, der meist bis zum 14. Lebensjahr erfolgt ist, ist nach aktuellem wissenschaftlichem Erkenntnisstand aufgrund einer wesentlich größeren Bandbreite von Entwicklungsverläufen mit einer deutlich höheren Häufigkeit einer Nicht-Persistenz nonkonformer Geschlechtsidentitäten zu rechnen als bei Jugendlichen, die nach Eintritt der Pubertät über einen längeren Zeitraum anhaltend eine geschlechts-nonkonforme Identität empfinden. Zudem ist in dieser Altersgruppe eine im Alltag verlässlich erfahrbare Anerkennung ihrer empfundenen Geschlechtsidentität (Schule, Sport, Wartezimmer) zum Schutz vor erlebter Zurücksetzung und Diskriminierung weitestgehend hinreichend (z.B. werden noch keine Ausbildungsverträge geschlossen). Die Möglichkeit, nur den Vornamen zu ändern, könnte für diese Altersgruppe somit besonders sinnvoll sein.

Wir schlagen daher folgenden Zusatz zu § 3 (2) vor: „Auf die Bevorzugung eines Vorgehens entsprechend § 2 (4) für diese Altersgruppe ist seitens des Standesamtes hinzuweisen.“


Zu § 4 und § 5
Gerade junge Menschen können im Zuge ihrer Identitätsfindung ebenso zur inneren Erkenntnis gelangen, dass es am ehesten ihrer geschlechtlichen Identität entspricht, einen vollzogenen Rollenwechsel wieder zurückzunehmen. Daher begrüßen wir die Möglichkeit der unbürokratischen Rücknahme einer Personenstands- oder Vornamensänderung durch die Fristgebung in § 4.
Ebenso würden wir eine aus unserer fachlichen Überzeugung auch für Jugendliche angemessene Sperrfrist nach § 5 begrüßen. Es besteht aus unserer fachlichen Sicht keine Veranlassung, die Sperrfrist von einem Jahr für Kinder und Jugendliche nicht gelten zu lassen. Der Satz in der Gesetzesbegründung (S.42) „Dies trägt insbesondere bei Minderjährigen deren noch andauernder Persönlichkeitsentwicklung Rechnung“ unterstellt, dass eine persönliche Reife und die Fähigkeit, die Tragweite der Entscheidung zu erfassen, beim Eintrag der Änderung für diese Altersgruppe doch nicht vorliegen müssten oder im Einzelfall doch nicht vorgelegen hätten.

Wir schlagen vor, Satz 2 des § 5 (1) zu streichen (“Dies gilt nicht in den Fällen des § 3.“).


Zusätzliche Anmerkung:
Anders als in vielen andere Gesetzesvorhaben ist in diesem Gesetz eine Evaluation oder ein Monitoring nicht vorgesehen. Beim aktuell nicht umfangreichen Kenntnisstand zu Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie wäre ein Monitoring und epidemiologische Forschung zu Auswirkungen und Veränderungen, die der geplanten Gesetzesänderung folgen können, sinnvoll und erforderlich.

Für den Vorstand der DGKJP

Prof. Dr. med. Marcel Romanos
Präsident DGKJP

 

Sehr geehrter Herr Professor Lauterbach,

wir wenden uns heute an Sie, um auf eine krisenhafte Entwicklung aufmerksam zu machen, die bereits in vielen Bereichen der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen zu Einschränkungen geführt hat. Diese Entwicklung wurde durch die Pandemie akut verschärft, jedoch nicht durch sie ausgelöst. Wir werden darstellen, warum dringend Korrekturen an verschiedenen Stellschrauben erforderlich sind, um diese Entwicklung aufzuhalten. Wir konzentrieren uns in diesem Schreiben auf die relevanten Bereiche des SGB V. Uns ist dabei bewusst, dass diese Felder eingebettet sind in ein größeres gesamtgesellschaftliches Versorgungssystem.

Die Problematik lässt sich in folgende Bereiche gliedern:

(1) Steigende Inanspruchnahme
Psychische Störungen stellen die maßgebliche Morbidität im Kindes- und Jugendalter dar und zählen zu häufigsten Behandlungsgründen bei Kindern und Jugendlichen. Sie sind die Volkskrankheiten mit dem frühesten Beginn, der höchsten Chronizität und bedingen erhebliche direkte und indirekte Folgekosten über die gesamte Lebensspanne.

Dass junge Menschen in Deutschland während der Pandemie eine drastische Zunahme psychischer Belastungen erlebt haben, ist durch viele Studien belegt. Die aktuelle Analyse der InEK-Daten (Kölch et al., 2023) belegt, dass sich diese Belastungen auch in einer veränderten kategorialen Morbidität äußert mit einer Zunahme von Angsterkrankungen, Depressionen sowie Essstörungen. Verschiedene regionale Auswertungen in Deutschland belegen einen massiven Anstieg von psychischen Krisen bei Kindern und Jugendlichen mit einer verstärkten akuten Inanspruchnahme der Krankenhausstrukturen. Dadurch ist die Verfügbarkeit kinder- und jugendpsychiatrischer Akutbehandlung derzeit wichtiger denn je.

(2) Fachkräftemangel
Diese bereits vor der Pandemie sich abzeichnende Steigerung der Inanspruchnahme und Belastung der Versorgungsstrukturen wird aggraviert durch einen eklatanten Personalmangel, insbesondere im ärztlichen sowie pflegerischen Bereich. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJPP) ist seit Jahren das Fach mit der geringsten Quote an ärztlichen Bewerber*innen auf offene Stellen. Wesentlicher Grund hierfür ist, dass „Psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen“ im Medizinstudium unterrepräsentiert ist, zumal das Fach bisher nicht in der curricularen Lehre berücksichtigt ist. Gerade mit der Reform des Studiums muss auch die Ausrichtung auf die psychische Gesundheit von Kindern stärker werden! Gleichermaßen trifft der systemische Mangel an pflegerischem und pädagogischem Fachpersonal die KJPP als besonders personalintensives Fach überproportional hart.

(3) Bürokratiemonster PPP-RL und PEPP
Der faktische Personalmangel wird zusätzlich verschärft durch den relativen Personalmangel infolge der anteilig immer weiter sinkenden Zeit des Personals direkt an den Patient*innen. Es muss immer mehr Behandlungszeit systematisch aufgewendet werden für zunehmend bizarre Dokumentations- und Organisationspflichten, die die Mangelversorgung weiter aggravieren. Der Mehrwert des vor wenigen Jahren eingeführten PEPP-Systems konnte bis heute nicht belegt werden. Die in diesem Zuge eingeführten MD-Nachweise und Dokumentationen, die vielfältig erforderlichen Codes haben nicht nur keine Verbesserung der Situation erbracht, sondern sowohl klinisch tätiges Personal als auch die Verwaltungsstrukturen an die Grenze der Belastbarkeit geführt. Der zusätzliche Aufwand erhöht die Belastungen und Unzufriedenheit des Personals. Die Situation soll nun durch die MD-Qualitätskontroll-Richtlinie abermals verschärft werden. Auch wird die Einführung der sinnvollen Stationsäquivalenten Behandlung bei Kindern und Jugendlichen durch 100 %-ige Prüfquoten behindert.

Gleichermaßen ist mit der PPP-RL ein Instrument geschaffen worden, das kontinuierlich zweckentfremdet und umgedeutet wird zum Budgetfindungsinstrument, um dessen Ausfinanzierung juristisch gestritten wird und dessen Mindestvorgaben von rund der Hälfte aller Kinder- und Jugendpsychiatrien nicht durchgängig erreicht werden (IQTiG-Quartalsbericht an den G-BA 2021). Die vorgebliche Qualitätssicherung bedeutet faktisch eine Spirale der Kosteneinsparungen durch die bereits begonnene Phase der Schließung von wohnortnahen Versorgungsstrukturen. Innerhalb der PPP-RL muss daher grundlegend umgesteuert werden. Die Überarbeitung wurde jedoch nochmals verschoben.

(4) Verschiebebahnhöfe zwischen den Systemen
Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen ist aufwändig, personalintensiv und erfordert wohnortnahe interdisziplinäre Netzwerkstrukturen mit niederschwelligen Angeboten bis hin zu hochintensiven Akutstrukturen. Diese Netzwerke umfassen Leistungen aus verschiedenen Sozialgesetzbüchern, so dass Schnittstellen mit erheblichen Reibungsverlusten und vielfachen Versorgungslücken zwischen den Systemen entstehen. Diese „Verschiebebahnhöfe“ (Abschlussbericht APK KiJu-Projekt) werden auch durch die anstehende Reform der Sozialgesetzbücher nur partiell gelöst. Insbesondere die Schnittstelle zwischen pädagogischen und Jugendhilfe-Strukturen zur Medizin bleibt im Versorgungsalltag ein gravierendes Hindernis.

(5) Blockade von Lösungsansätzen
Die o.g. Punkte sind weder neu noch unbekannt. Viele Initiativen, Konzepte und Projekte wurden in den vergangenen Jahren erarbeitet, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. So wurde durch das BMG die Aktion Psychisch Kranke (APK) betraut mit der Erarbeitung von Empfehlungen, die weitgehend auf eine Umsetzung warten. Die Empfehlungen betreffen sowohl die bessere Verzahnung von ambulantem und stationärem Bereich, komplexe sektorübergreifende Leistungen für besonders schwer erkrankte Kinder- und Jugendlichen, Hinweise zur besseren Aufklärung und Ermöglichung von Partizipation, letztlich auch Verbesserungsbedarfe innerhalb der bestehenden Strukturen, aber auch viele Hinweise zur Ökonomisierung und Schaffung von Synergieeffekten.
Erhebliche Mittel wurden für die Begleitevaluation innovativer Versorgungsmodelle im Rahmen des §64b SGB V aufgewendet, jedoch bereitet die Übertragung von Modellen im Bereich der KJPP auf andere Standorte weiterhin Mühe und es wurde das Ziel in jedem Bundesland mindestens ein Modell für Kinder und Jugendliche zu etablieren, klar verfehlt. Der wichtige Hinderungsgrund ist der fehlende Kontrahierungszwang: psychisch kranke Kinder taugen nicht für den Wettbewerb zwischen Kassen! Ebenso gelang es bisher nicht, Projekte unter Förderung des G-BA Innovationsfonds in die Regelversorgung zu überführen.

Die Situation ist prekär und die verschiedenen Problemkonstellationen verstärken sich wechselseitig. Zusammenfassend ist die Versorgung der am schwersten erkrankten Kinder und Jugendlichen unmittelbar gefährdet. Mit dem absehbaren Kollaps der stationären Versorgungsstrukturen werden mittelfristig auch viele Regionen keine ausreichende Flächenversorgung durch ambulante Strukturen mehr vorhalten können. Daher formulieren wir an dieser Stelle stichpunktartig die aus unserer Sicht dringend erforderlichen Maßnahmen, um einerseits vermeidbare Fehlentwicklungen aufzuhalten, andererseits aber nicht vermeidbare strukturelle Veränderungsnotwendigkeiten sinnvoll zu bahnen.

Kernforderungen:

  • Die Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher muss weiterentwickelt und sektorenübergreifend ausgerichtet werden. Dazu müssen die Empfehlungen der APK (KiJu Dialog) umgesetzt werden sowie neue Versorgungsmodelle (z.B. G-BA Innovationsfonds, §64b-Projekte) in der Fläche implementiert werden. Damit diese überhaupt funktionieren im Bereich KJPP muss es einen Kontrahierungszwang geben. Auch die stationsäquivalente, aufsuchende Behandlung durch das Krankenhaus benötigt für ihre Umsetzung in der Fläche bessere Anreize.
  • Wir brauchen dringend mehr Personal in allen Versorgungsbereichen. Da dies nicht sofort zur Verfügung steht, müssen umgehend Maßnahmen in die Wege geleitet werden, die eine Flexibilisierung des Personaleinsatzes ermöglichen, z.B. im Rahmen innovativer
    sektorübergreifender Angebote. Dabei muss die Behandlungskontinuität und Qualität der Versorgung gewährleistet werden. Neue Berufsgruppen wie Medical Assistants sind zur Entlastung ärztlicher Tätigkeiten verstärkt auszubilden. Die Qualifizierung von Personal im Pflege und Erziehungsdienst muss über das gesamte Arbeitsleben möglich sein. Entsprechende Fachweiterbildungen auch für Erzieher*innen müssen offiziell anerkannt werden und in den Tarifwerken Niederschlag finden.
  • Wir brauchen umgehend eine signifikante und spürbare Reduktion von patienten-fernen Tätigkeiten. Wenn Dokumentation und Organisation genauso viele Ressourcen verbrauchen, wie die Arbeit an den Patient*innen, muss über eine signifikante Modifikation, wenn nicht gar über die Abschaffung von PEPP und PPP-RL gesprochen werden.
  • Es müssen die Ausbildungs- und Studienkapazitäten erhöht werden. Das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie muss im Rahmen der Neuordnung des Medizinstudiums gestärkt werden, damit auch spätere Allgemeinärzt*innen, Ärzt*innen im Öffentlichen Gesundheitsdienst und Primärversorger*innen darin qualifiziert sind. In der Pflegeausbildung müssen Kompetenzen im Umgang mit psychischen Krisen und Verhaltensstörungen implementiert werden und Wissen über kinder- und jugendpsychiatrische Störungen wieder eingeführt werden, das mit der generalistischen Ausbildung aus den Curricula verschwand.
  • Niedergelassene Fachärzt*innen, die nach der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung arbeiten, leisten den zentralen Beitrag zur kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in der Fläche. Viele Praxen leiden gleichermaßen unter dem interdisziplinären Personalmangel und finden keine Nachfolge. Vor dem Hintergrund der Überalterung der Niedergelassenen ist die Flächenversorgung nachhaltig in Gefahr und viele junge Ärzt*innen scheuen das finanzielle Risiko. Wir benötigen eine breite politische Initiative, die gezielt die Niederlassung fördert und auch die Weiterbildung im Fach attraktiv macht, so wie dies bereits regional durch einige Kassenärztlichen Verbände vorgemacht wird.
  • Psychiatrische Institutsambulanzen stellen die einzige ambulante hochintensive Struktur in Deutschland dar mit dem genuinen Auftrag, stationäre und teilstationäre Aufnahmen von psychisch schwer erkrankten Kindern und Jugendlichen zu vermeiden. Daher müssen diese in Deutschland in der Fläche konsequent und gleichartig ausgebaut sowie dauerhaft gefördert werden, um den bereits initiierten Abbau von stationären Versorgungsstrukturen zu kompensieren. Zudem stellt dies den einzigen plausiblen Ansatz zum Ausbau der Ambulantisierung dar. Nicht erst seit der Corona-Pandemie sind Notfallvorstellungen infolge akuter psychischer – meist suizidaler – Krisen von Kindern und Jugendlichen klinischer Alltag und wesentliche Aufgabe der stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsstrukturen. Die Finanzierung der Institutsambulanzen muss daher auch ihrem Charakter und ihrer Aufgabe als Krisen- und Notfallambulanz gerecht werden. Dies ist vor dem Hintergrund weitgehend fehlender Notfallstrukturen in der Jugendhilfe von besonderer Bedeutung.
  • Digitale Angebote können sinnvoll unterstützend eingesetzt werden. Seien es die Bereitstellung von Informationen zur Behandlung, erste Übungen zur Überbrückung von Wartezeiten oder tiefergehende therapeutische Interventionen während der Behandlung. Des Weiteren bietet, wie in der Pandemie bereits gezeigt, der Einsatz von Videosprechstunden eine Chance, den Behandlungserfolg nachhaltig zu festigen. Die Angebote können über digitale Patientenplattformen strukturiert zur Verfügung gestellt werden. Sie bieten die Chance, einen einfachen Zugang zum psychiatrischen Versorgungssystem zu ermöglichen, d. h. unter anderem zu Therapieangeboten, Service-Leistungen, wie digitale Termin-Vereinbarungen, digitale Anamnese, verschiedene Applikationen sowie zu Informationsmaterialien zu Standorten, Kliniken, Behandlern u. v. m.

Zur dauerhaften Nutzung dieser Angebote bedarf es allerdings einer Finanzierung durch die Kostenträger, die derzeit noch nicht flächendeckend gegeben ist. Die beschriebene notwendige weitere Flexibilisierung und Digitalisierung der Versorgungssysteme wird eine wesentliche Voraussetzung zur Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen Versorgung sein. Insofern sollte eine breite Initiative gestartet werden, die eine Integration digitaler Angebote in allen Versorgungsformen inhaltlich und finanziell unterstützt.
Die obigen Punkte sind nicht als abschließend zu verstehen, sollen aber Handlungsfelder aufzeigen, die es gemeinsam zu bewältigen gilt. Gerne beteiligen wir uns an einem tiefergehenden Diskurs, um Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten.

 

Mit freundlichen Grüßen

Reinhard Belling (BAG Psych)

Dr. med. Martin Jung (BAG KJPP)

Gerhard Förster (BAG PED)

Prof. Dr. med. Marcel Romanos (DGKJP)

Paul Bomke (Fachgruppe Psychiatrische Einrichtungen des Verbands der Krankenhausdirektoren Deutschlands)

Die Stiftung „Achtung!Kinderseele“ hat ihr multimediales E-Learning-Programm für Auszubildende ausgeweitet. Drei neue Module zu den Themen Essstörungen, Zwangsstörungen und Wut/Aggressionen stehen zur Verfügung. Die Entwicklung des kostenlosen Programms wurde von Prof. Dr. Michael Kölch wissenschaftlich begleitet und von der Deutsche Bahn Stiftung gefördert. Die ersten Module zu Mobbing, Arbeitsüberlastung und Zukunftsängsten wurden im Mai 2022 gelauncht.

Zum E-Learning Programm

Sehr geehrte Mitglieder der Regierungskommission,

herzlichen Dank, dass Sie in dem geplanten Reformprozess die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen berücksichtigen. Vereinbarungsgemäß finden Sie anbei unsere schriftlichen Ausführungen der in der Anhörung angesprochenen Punkte.

Vorab möchten wir Sie einführend mit dem Hintergrund und der Entwicklung der Versorgung von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen vertraut machen. Hierzu möchten wir auf zwei vom BMG geförderte Projekte zur Bestandsaufnahme der Versorgung und zur Weiterentwicklung der Versorgung aufmerksam machen. In diesen von der Aktion psychisch Kranke e.V. (APK) durchgeführten Projekten wurde sowohl der Versorgungsstand innerhalb des SGB V, aber auch in weiteren Sozialsystemen und anderen Sektoren außerhalb des SGB V analysiert. Zum anderen wurden Weiterentwicklungsbedarfe aufgezeigt, dies sowohl sektorübergreifend im SGB V, als auch über die Systemgrenzen des SGB V hinaus. Auch für besondere Gruppen, wie Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung, Patient:innen mit Suchtstörungen etc. wurden entsprechende Weiterentwicklungsempfehlungen verfasst. Beide Projekte waren interdisziplinär und partizipativ unter Beteiligung von Angehörigen, der wissenschaftlichen Fachgesellschaft und den Verbänden angelegt und die Empfehlungen wurden konsensuell erarbeitet. (vgl. Handlungsempfehlungen der Aktion Psychisch Kranke; Bestandsaufnahme und Bedarfsanalyse APK)

Ambulante Versorgungsstrukturen
In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der niedergelassenen Fachärzt:innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJPP) von ca. 600 auf 1.052 (Stand 31.12.2022, Ärztestatistik der Bundesärztekammer) erhöht. Die meisten Niedergelassenen arbeiten nach der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung (SPV) und versorgen in interdisziplinären Teams den bei weitem größten Teil der Patient:innen. Zusätzlich sind im ambulanten Bereich psychotherapeutisch tätig ca. 4.400 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen (Psychotherapeutenstatistik der BPthK) sowie Psychologische Psychotherapeut:innen mit Ermächtigung für Kinder und Jugendliche (Zahlen liegen uns nicht vor). In vielen schwach versorgten Regionen unterstützen Psychiatrische Institutsambulanzen die ambulante Regelversorgung.

Stationäre Versorgungsstrukturen
Die Bettenzahl in der KJP wurde seit den 1990er Jahren zuerst reduziert, wuchs jedoch in den letzten Jahren an auf aktuell rund 6.700 Betten (Destatis.de). Weiterhin gibt es ca. 4000 tagesklinische Behandlungsplätze. Die Bettenmessziffer (BMZ; Betten pro 10.000 EW unter 18 Jahren) schwankt zwischen den Bundesländern erheblich (Bayern: 3,2 – Thüringen: 10,5), wobei die großen bzw. bevölkerungsreichen Bundesländer wie BY, BW und NRW eher niedrige Bettenmessziffern aufweisen. Es gibt kein absolut objektives Maß für die notwendige Anzahl von stationären Behandlungsplätzen. Die Zahl ist u.a. abhängig von der ambulanten Versorgungssituation sowie dem Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe im Versorgungsgebiet, da diese Klientel eine im Vergleich zur Normpopulation signifikant höhere Rate an psychischen Störungen aufweist. Über 70% aller Patient:innen, die stationär behandelt werden, erhalten auch Maßnahmen durch die Kinder- und Jugendhilfe (Beck, 2015). Zudem ist das Auftreten psychischer Störungen u.a. von sozialen Faktoren abhängig, d.h. Regionen mit höherer Armutsquote können auch höhere Bedarfe haben. Schließlich spielen geografische Faktoren eine Rolle: in urbanen Verdichtungsräumen können beispielsweise aufgrund guter Erreichbarkeit tagesklinische Behandlungsplätze vollstationäre Plätze eher ersetzen als in ländlichen Regionen mit größeren Distanzen.

Bereits initiierte Modifikationen der Versorgungsstrukturen und -konzepte
Die KJPP hat umfassende Schritte hin zu einer intensivierten Ambulantisierung genommmen. Hierbei sind nicht allein der Bereich der niedergelassenen Fachärzt:innen gemeint, sondern auch Behandlungen über die psychiatrischen Institutsambulanzen nach §118 SGB V (PIA), die stationsäquivalente Behandlung (StaeB, d.h. die Verlagerung stationärer Behandlung in das häusliche Umfeld), aber auch vermehrte tagesklinische Behandlungen, die den Vorteil der besseren Transmission von Behandlungsergebnissen in den Alltag erlauben.
Die stationäre Verweildauer in der KJPP sank in diesem Prozess von mehr als 100 Tagen vor dem Jahr 2000 auf 33 Tage im Jahr 2021 (Destatis.de). Dies ist einmal durch eine hohe Anzahl von Krisenaufnahmen in der KJPP bedingt, aber auch inhaltlich durch Umstellung der Behandlungskonzepte auf eine möglichst alltagsnahe und ambulante Behandlung, sowie eine Verbesserung der ambulanten Versorgung. Kennzahlen im Bereich der KJPP müssen also hochgradig differenziert eingeordnet werden und Veränderungen müssen mit Fachexpertise betrachtet werden. Per se sind z.B. Krisenaufnahmen nicht negativ zu bewerten, da diese z.B. auch in Behandlungskonzepten bei bestimmten Störungsbildern oder aber auch im Rahmen von Kooperationsverträgen mit dem wichtigsten Rehaträger, der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII), explizit vorgesehen und sinnvoll sein können.

Veränderte Indikationsstellungen für stationäre Behandlungen
Aufgrund der intensivierten Ambulantisierung erfolgte zudem eine Veränderung der Indikation für stationäre Behandlung: nicht die Diagnose per se ist in den allermeisten Fällen Grund für eine stationäre Behandlung, sondern Probleme im psychosozialen Funktionsniveau oder Teilhabeeinschränkungen, z.B. fehlender bzw. nicht möglicher Schulbesuch, starke innerfamiliäre Konflikte, Folgebedarfe in der Kinder- und Jugendhilfe, akute Eigen- oder Fremdgefährdung. Die stationäre Behandlung erfolgt also fast immer bei hochkomplexen konstellativen Bedingungen aufgrund einer Diagnose, aber eben nicht immer wegen dieser Diagnose allein.
Diesem Umstand trägt auch das EPPIK-Projekt Rechnung (vgl. weiter unten), welches von den psychiatrischen Fachgesellschaften unterstützt wird, indem es nicht diagnosebezogen, sondern aufwandsbezogen personelle Ressourcen für die Patient:innen definieren will. Stationäre Behandlung in der KJPP dient nicht der „Heilung“, sondern der der Herstellung einer ambulanten Weiterbehandlungsfähigkeit. Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter sind regelhaft chronische Erkrankungen. Schwere Verläufe mit stationärer Behandlungsindikation bedürfen damit immer auch einer Versorgungskette von ambulant über stationär und zurück in das ambulante System.

Dezentrale KJPP-Versorgungsstrukturen sind essentielles Qualitätsmerkmal
Die Behandlung muss so wohnortnah wie möglich erfolgen. Jedoch sind die Versorgungsgebiete der KJPP-Kliniken im Schnitt dreimal so groß wie in der Erwachsenenpsychiatrie, so dass eine weitere Zentralisierung nicht möglich ist. Die Organisation der Versorgung in einem Netz hochspezialisierter wohnortferner Versorgungskliniken wäre auch aufgrund der in den allermeisten Fällen während des stationären Aufenthalts notwendigen Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe, mit Nachsorgemaßnahmen, oder bei Indikation einer Weiterbehandlung in der Institutsambulanz nicht kompatibel. Die im Bereich der KJPP wichtige Milieutherapie, die entsprechend dem Alter unserer Patient:innen auch pädagogische Maßnahmen auf Station und die Beschulung in Klinikschulen (und deren Kooperation mit Heimatschulen) beinhaltet, ist mit hochspezialisierten Einrichtungen grundsätzlich nicht vereinbar. Diese Einschätzung schließt nicht aus, dass für spezifische Störungsbilder spezifische Konzepte in den Kliniken etabliert werden oder für umschriebene Gruppen (schwere Aggression bei Intelligenzminderung, schwere Suchterkrankungen) spezialisierte Angebote vorgehalten werden können. Hierfür sehen die Landesplanungen überregionale Angebote vor.

Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Spezifika in der Entwicklung der Versorgungsstrukturen sehen wir eine Reihe von Hindernissen, die KJPP in das geplante Reformvorhaben einzubeziehen. Diese Umstände möchten wir im Folgenden erläutern und darüber hinaus auf verschiedene konkrete Aspekte hinweisen, die vorrangig einer Reformierung bedürfen.

KJPP-Kliniken werden nicht durch DRG finanziert
Die Krankenhäuser nach §17d KHG (sog. Psych-Krankenhäuser und abteilungen) folgen einer fundamental anderen Entgeltlogik als Häuser nach §17b KHG. Die Fachgesellschaft hatte sich seinerzeit bereits sehr stark gegen Diagnosis-related-groups (DRG)-ähnliche Entgelte im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) ausgesprochen. Hintergrund war und ist, dass weder Diagnosen im Bereich der KJPP trennscharf den Aufwand beschreiben, noch die spezifischen, den Aufwand bedingenden Umstände der Behandlung (z.B. soziökonomischer Status der Patient:innen/Familien, notwendige Maßnahmen nach §35a SGB VIII, schulische Eingliederungsprobleme etc.) durch DRGs abbildbar wären. Der Gesetzgeber ist dem gefolgt und hat mit dem PEPP-System (dieses liefert einen diagnosespezifischen Multiplikator) und mit der Überarbeitung der weiterhin gültigen Bundespflegesatzverordung (BPflV), die ein krankenhausspezifisches Basisentgelt vorsieht, ein pauschalierendes Entgelt geschaffen, das einerseits Tagesentgelte vorsieht, die degressiv gestaltet sind, andererseits die höheren Aufwände prinzipiell abbilden kann (z.B. Kriseninterventionen mit kurzer Liegedauer). Insofern ist die Ausgangslage nicht mit der Somatik zu vergleichen.

Keine Fehlanreize zu Leistungsausweitungen
Anders als ggfs. in somatischen Bereichen bestehen in der KJPP keine Fehlanreize zu einer unnötigen Leistungsausweitung. Da mit der Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie (PPP-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) entsprechend Personal nachzuweisen ist pro behandelten Patienten, sind ehemals durchaus bestehende Fehlanreize wie eine hohe Belegung bei zu wenig Personal Vergangenheit. Die PPP-RL verhindert zudem eine Mengenausweitung insofern, als Leistungen ohne entsprechende Personalausstattung sanktioniert und Regresse geltend gemacht werden sollen. Insofern ist eine wesentliche Motivation für die geplante Krankenhausreform, nämlich die Aufhebung der ökonomischen Anreize zur Leistungsausweitung innerhalb DRG-Systems, für die KJPP nicht zutreffend.
Die stationären Kapazitäten in der KJPP sind praktisch ausgelastet. Während in 2019 die Auslastung bei 88,7% lag, erfolgte kurzzeitig in 2020 eine Reduktion auf 78,2% infolge der Covid-19-Pandemie, war jedoch bereits 2021 mit 85,6% wieder nahezu auf dem vor-pandemischen Niveau. Damit hat sich das System erstaunlich stabil während der Pandemie gezeigt, und es zeigt sich auch, dass die Bedarfe an stationären Kapazitäten im Bundesdurchschnitt relativ stabil sind. Aufgrund der eingangs beschriebenen unterschiedlichen BMZ schließt dies nicht regionale Bedarfe nach mehr voll- und teilstationären Behandlungsplätzen aus. Wie Kölch et al. (2023) nachweisen konnten, haben sich v.a. in Regionen mit eher niedriger BMZ Verweildauern deutlich verkürzt, was einem gestiegenen Aufnahmedruck und einer Zunahme an Krisenbehandlungen geschuldet sein dürfte (Kölch et al., 2023). Dies muss jedoch auch in Bezug zu den eingangs genannten Faktoren auf Landesebene analysiert und geplant werden. Es bestehen deutliche regionale Nachbesserungsbedarfe.
Was dem System auch insbesondere in den Regelungen der PPP-RL fehlt, ist eine Flexibilität in der Versorgung, da die Regelungen der PPP-RL zum Nachweis des Personals viel zu starr und stationsbezogen sind, so dass ein flexibles Reagieren auf temporäre Mehrbedarfe erschwert wird.

Es drohen Versorgungsengpässe
Angesichts des sich akut verschärfenden interdisziplinären Personalmangels und der gleichzeitig pandemiebedingt erhöhten Inanspruchnahme durch Patient:innen mit längerfristigem Versorgungsbedarf (Kölch et al., 2023) muss den wiederholten Forderungen nach allgemein mehr Bettenkapazitäten in der KJPP insgesamt eine Absage erteilt werden. Bettenmehrungen sind aus Sicht der DGKJP punktuell in wenigen Regionen mit sehr niedriger Bettenmessziffer sinnvoll und realistisch umsetzbar. So hat beispielsweise Baden-Württemberg aktuell eine neue Fachplanung für die Versorgung in der KJPP beschlossen. In manchen Regionen hat der Personalmangel im ärztlichen oder pflegerischen Bereich sogar zu Stations- oder Klinikschließungen geführt. Solange die Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie nicht fest in der Lehre als AO-Fach verankert wird auch im Rahmen der Reform der ApprO, wird sich auch die Zahl der Ärzt:innen, die im Fach KJPP einen Weiterbildung anstreben, wenig ändern. Vielmehr müssen nun dringend Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um die Versorgung von Kindern mit schweren psychischen Erkrankungen sicherzustellen. In dieser Hinsicht besteht in verschiedenen Bereichen dringender Reformbedarf, und neben einem punktuellen Ausbau bietet sich ein „Umbau“ in stationsäquivalente oder ambulant intensive Behandlungsformen an, unter besonderer Berücksichtigung eines sektorübergreifenden Vorgehens

Vollständige Personalrefinanzierung
Der Anteil der Personalkosten in der stationären KJPP liegt bei mind. 80% der Kosten, während der Sachkostenanteil gering bleibt. Die Ausfinanzierung des für die Behandlung von Kindern mit psychischen Erkrankungen notwendigen, qualifizierten Personals durch die Kostenträger ist daher zentral für den Erhalt der Versorgungsstrukturen. Es kann nicht einerseits ein Mindeststandard für Personal als Voraussetzung durch die PPP-RL definiert werden und andererseits das geforderte Personal nicht ausfinanziert werden. Derzeit klagen die Kostenträger gegen mehrere diesbezügliche Schiedsstellenurteile.
Ohne vollumfängliche Gegenfinanzierung durch die Kostenträger (z.B. bei Tarifsteigerungen), der Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten wie z.B. auch bei Nachtdiensten, Bereitschaftsdiensten, Ausbildungskosten etc. wird eine Vorhaltung für die Versorgung z.B. von Notfällen verunmöglicht und die Träger in ein unlösbares Dilemma gebracht. Hier besteht der dringendste Bedarf von normativen Vorgaben.

PPP-RL ist kein Budgetfindungsinstrument
Die PPP-RL definiert Vorgaben für die zwingend erforderlichen Untergrenzen in der Personalausstattung. Sie ist explizit kein Personalbemessungsinstrument, wird jedoch systematisch missverstanden und zweckentfremdet als Finanzierungsgrundlage. Die psychiatrischen Fachgesellschaften haben daher ein Personalbemessungsinstrument entwickelt, das derzeit in einer Studie des G-BA Innovationsfonds evaluiert wird (EPPIK-Studie). Ein Aussetzen der Sanktionen bei Nichterfüllung der PPP RL sehen wir jedoch sehr kritisch, da dies für Krankenhausträger einen Anreiz darstellen könnte, entsprechendes Personal nicht vorzuhalten.

Psychiatrische Institutsambulanzen stärken
Psychiatrische Institutsambulanzen nach §118 SGB V nehmen eine wichtige Rolle in der Vermeidung oder Verkürzung von stationären Aufenthalten wahr, sie können auch die für die Patient:innen wichtige Behandlungskontinuität sichern. Sie können als Schlüssel für die Versorgungssteuerung bei Patient:innen dienen. Sie sind elementarer Bestandteil eines wie oben beschriebenen flexiblen Systems, das auch auf Mehrbedarfe reagieren kann und auch aufsuchende Behandlung ermöglichen könnte. Hier besteht aber dringender Reformbedarf. Die Möglichkeiten zur Patientenversorgung sind infolge unterschiedlicher Vergütungssysteme je nach Bundesland äußerst heterogen. Aufsuchende Behandlung ist z.B. nur bei entsprechenden Systemen wie dem sogenannten „bayerischen Modell“ ansatzweise möglich. Des Weiteren bestehen (historisch bedingte) Leistungsausschlüsse, die fachlich nicht mehr gerechtfertigt sind, wie z.B. eine parallele Richtlinienpsychotherapie, keine regelhafte Möglichkeit von Videosprechstunden oder e-Health Angeboten etc. Die Auswertung der PIA-Dokumentationsrichtlinie steht seit Jahren aus. Gleiche Versorgungsmöglichkeiten in der PIA in allen Bundesländern zu erhalten, wäre aber für Patient:innen und ihre Familien bundesweit essentiell. Neben der regional ungleichen Finanzierung sind Bau und Instandhaltungskosten von Räumlichkeiten der PIA bisher gar nicht vorgesehen, bzw. überhaupt nicht finanziert. Zudem müssen bundesweit Möglichkeiten für aufsuchende Behandlungsformen geschaffen werden, die eine Brücke zum Ausbau stationsäquivalenter Behandlungen schaffen. Um stationäre Bedarfe im ambulanten Setting effektiv erfüllen zu können und den Prozess der Ambulantisierung über das bereits erfolgte Maß hinaus weiter zu entwickeln, stellen Institutsambulanzen unverzichtbare und zentrale Strukturen dar, die es weiter zu entwickeln gilt.


Im Folgenden nehmen wir zu den von der Regierungskommission adressierten Punkte des Reformvorhabens im Detail Stellung:

1. Einteilung der Krankenhäuser in Level I bis III
Kinder- und jugendpsychiatrische Abteilungen werden von den Bundesländern nach eigenen Vorgaben in teils sehr großen Versorgungsgebieten geplant. Sie sind an den unterschiedlichsten Standorten repräsentiert: alleinstehende Tageskliniken, alleinstehende Fachkliniken, Abteilungen an Fachkrankenhäusern (Kinder- und Jugendmedizin, (Erwachsenen-)Psychiatrie), an Allgemeinkrankenhäusern und an Universitätskliniken. Perspektivisch könnte aber die Bewegung, die innerhalb der Häuser durch die geplanten Reformen entstehen wird, dazu führen, dass Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an einem Level-I-Krankenhaus zu liegen kommen. Objektiv bedarf unser Fachgebiet einer logistischen Anbindung, aber keiner unmittelbaren Nähe zu einem Krankenhaus eines höheren Levels.

2. Zuweisung von Krankenhäusern zu spezifischer definierten Leistungsgruppen
Eine Klinik für KJPP mit Pflichtversorgung kann definitiv nicht in die vorgeschlagenen Leistungsgruppen aufgeteilt werden. Die derzeit gültigen Vorgaben der PPP-RL differenzieren in Regel- und Intensivbehandlung, wobei die Intensivbehandlung im Verlauf stets in eine Regelbehandlung übergeht. Beides muss in personeller Kontinuität möglich sein. Weiterhin hat die Wohnortnähe der Versorgung absoluten Vorrang angesichts der Notwendigkeit des therapeutischen Einbezugs von Familie und Umfeld. Die ambulante sowie (teil-)stationäre Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen in der KJPP erfolgt mit wenigen Ausnahmen ohne Spezialisierungen und Fokussierungen auf spezifische Störungsbilder, auch weil die Entwicklungstrajektorien früher psychischer Morbidität regelhaft mit komorbiden Verläufen einhergehen. Insofern wäre eine strenge thematische Aufteilung des Faches in Leistungsgruppen für die Versorgungsqualität abträglich und entspräche im Übrigen auch nicht der Tatsache, dass stationär behandelte Patient:innen sehr häufig komorbid mehrere Störungsbilder aufweisen.
Auch für besondere Gruppen, wie Patient:innen mit Intelligenzminderung oder Patient:innen mit Suchtstörungen eignen sich keine eigenen Leistungsgruppen. Hier ist zwischen allgemeiner Versorgung, die auch regional erfolgen muss und spezialisierten Einrichtungen zu unterscheiden, die aufgrund der besonderen Aufwände vornehmlich im personellen Bereich eine entsprechende Personalbemessung benötigen. Eine Leistungsgruppe erbringt keine Verbesserung per se in diesen Fällen. Die Krankenhausplanung in NRW hat nicht ohne Grund auf differenziertere Leistungsgruppen im Bereich KJPP verzichtet.

3. Teil-Finanzierung von Krankenhäusern über leistungsunabhängige Vorhaltebudgets
Die Frage nach Vorhaltebudgets in der KJPP muss differenziert betrachtet werden. Die PPP-RL macht Mindestvorgaben für die (teil-)stationäre Regel- und Intensivversorgung zu den Kernarbeitszeiten. In der Logik des PEPP-Systems wurden in die Kosten der PEPP auch Vorhaltekosten durch das InEK eingerechnet, und weitere strukturelle Vorhaltekosten über das Basisentgelt auf lokaler Ebene in den Budgetverhandlungen mit den Kostenträgern verhandelt (siehe oben). In der Notfallversorgung gilt es Bereitschaftsdienste und eine 24-stündige Aufnahmebereitschaft sicherzustellen, welches aktuell mit den Verhandlungspartnern vor Ort gesondert zu verhandeln ist. Abschläge sind vorgesehen, wenn ein Krankenhaus nicht an der Pflichtversorgung teilnimmt. Mit Ausnahme zweier universitärer Abteilungen und einiger Kliniken, die nicht in den Landesbettenplänen als Versorgungskliniken definiert sind, nehmen nahezu alle KJPP-Abteilungen und Kliniken in Deutschland an der Pflichtversorgung teil.
Diese dezentrale Verhandlungspraxis ist in einigen Regionen zwar noch tragfähig, jedoch zeigt sich, dass in Kliniken mit hoher Notfallbelastung (tags und nachts) und der Notwendigkeit für nächtliche Präsenzdienste erhebliche Lücken in der regulären stationären Versorgung tagsüber durch den resultierenden Freizeitausgleich gerissen werden. Dies führt zu einer Qualitätseinschränkung der Versorgung und zur kontinuierlichen Gefahr der Unterschreitung der PPP-RL-Vorgaben. Leistungsunabhängige Vorhaltebudgets können an dieser Stelle die Versorgung und die Versorgungsqualität sichern. Ganz abgesehen davon können entsprechende tarifrechtliche Regelungen in der Zukunft z.B. bezogen auf die Arbeitszeiten der Ärzt:innen eine Sicherstellung ärztlicher Bereitschafts- oder Anwesenheitsdienste aus dem Fachgebiet heraus erschweren oder verunmöglichen, was zu komplexen Dienstsystemen unter Einbezug anderer Fachgebiete bei gleichzeitiger Sicherstellung des Facharztstandards führen kann.
Es mangelt jedoch an einer bundesweit einheitlichen Definition der regionalen Pflichtversorgung. Die vom G-BA für die Datenerhebung gewählte Beschreibung (geschlossene Stationen, geschlossene Bereiche, 24-Std-Bereitschaftsdienst, gesetzlich und landesrechtlich untergebrachte Patient:innen) lehnen wir als ungeeignet ab. Durch die Verknüpfung von Freiheitsentzug und ökonomischen Mehrleistungen werden Fehlanreize geschaffen, die dem Ziel der Reduktion von Freiheitsentzug im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention widersprechen. Vermeidung von Zwang und moderne „fakultativ geschlossene“ Versorgungskonzepte würden strukturell benachteiligt werden zu Lasten der jungen Patient:innen.

4. Flexible teilstationäre Belegung vollstationärer Betten
Bundesweit wird bereits etwa die Hälfte der Behandlungskapazität teilstationär erbracht. Eine Flexibilisierung der vollstationären Behandlung und Nutzung der Angebote für die anderen Versorgungsformen wie stationsäquivalent und teilstationär ist für Gruppentherapien und Fachtherapien bereits üblich, und wurde auch in die PPP-RL aufgenommen (eine Behandlung teilstationär solle auf der gleichen Station möglich sein). Dennoch geht die PPP-RL von einer „Station“ als einer „räumlich und organisatorisch abgegrenzten Einheit“ mit fest zugeordnetem Personal und einer festen Patientenzahl nach festgelegten Kategorien aus. Das Konzept gehört breiter flexibilisiert als nur für teilstationäre Patient:innen. Stationsäquivalente und ambulante Patient:innen sollten ebenso einbeziehbar sein, und Patient:innen in der Entlassphase sollten – sofern die Klinik wohnortnah liegt – jederzeit teilstationär oder stationsäquivalent oder auch ambulant geführt werden können. Dabei wäre noch die Frage des Besuches der Schule für Kranke zu klären, die aber nicht der Bundesgesetzgebung, sondern den Kultusministerien der Länder zugeordnet ist. Für Fälle mit weiter geltender Krankenhaus-Behandlungsindikation kann für die weitere soziale Stabilisierung der fortlaufende Besuch der Schule für Kranke konstituierend sein.

5. Modellprojekte mit Regionalbudget oder sektorenübergreifenden Quartalspauschalen
Ein Regionalbudget unter Fallenlassen aller anderen strukturellen Zwänge halten wir für ein perspektivisch sehr sinnvolles und attraktives Modell. Es vereint die Vorteile des Übergangs von „Betten“ zu „Fällen“ durch die „Capitation“ der Vergütung und zwingt von der Anlage her dazu, möglichst ambulante, auch ambulant-aufsuchende Behandlung anzubieten. Des Weiteren lässt sich in einem solchen Modell ein personenzentrierter Ansatz mit einer auf die Bedarfe der jeweiligen Patient:innen und ihrer Familien zugeschnittenen Versorgung am besten verwirklichen. Es muss aber alle Krankenkassen umfassen, sonst ist es für die vergleichsweise kleinen KJPP-Einheiten nicht machbar. Modellvorhaben nach § 64b SGBV für die Kinder- und Jugendpsychiatrie sind infolge des gesetzgeberisch ausgebliebenen Kontrahierungszwanges für alle Krankenversicherungen leider nicht repräsentativ entstanden. Eine sektorenübergreifende Versorgung müsste für eine flächendeckende Erreichbarkeit unserer Patient:innen infolge der sehr großen Einzugsgebiete der Krankenhäuser unter Einbeziehung der – meist als sozialpsychiatrische Praxen geführten – niedergelassenen Ärzt:innen und der Psychotherapeut:innen gleichzeitig erfolgen können. Allerdings werden die Sektorengrenzen derzeit durch nicht sinnvolle Leistungsausschlüsse sogar zementiert (z.B. zwischen Behandlung nach der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung und parallel psychiatrischer Institutsambulanz). Wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung entsprechender Strukturen ist die Weiterentwicklung der Institutsambulanzen im Sinne eines intensivambulanten Settings zur Reduktion und Verkürzung stationärer Behandlungen (s.o.). So kann in der Perspektive ein bedarfsgerechter stepped-care Ansatz geschaffen werden.

Zusammenfassend…

… sind die Voraussetzungen in der KJPP gegenüber somatischen Fächern grundlegend anders. Weder bestehen Anreize zu nicht bedarfsgerechter Leistungsausweitung, noch besteht Überversorgung.

… ist eine Übertragung des vorgestellten Level-Systems auf die KJPP nicht möglich. Die Entgeltlogik des PEPP ist grundsätzlich anders als das DRG System. Wir sehen keinen raschen Handlungsbedarf hinsichtlich einer kompletten Umstellung der Finanzierung.

…ist die Zuteilung in Leistungsgruppen für die KJPP fachlich nicht sinnvoll und nicht praktikabel.

… sind einzelne Elemente der Reformvorhaben wie Regionalbudgets oder leistungsunabhängige Grundfinanzierungen mit Modifikationen für die KJPP denkbar und interessante Entwicklungsoptionen.

… muss KJPP-Versorgung zwingend wohnortnah und sektorübergreifend erfolgen. Der Trend zur Zentralisierung kann in der KJPP nicht mitgegangen werden.

… möchten wir ausdrücklich vor „Schnellschüssen“ warnen, wenngleich Reformbedarf besteht.


Der Reformbedarf zeigt sich insbesondere in folgenden Bereichen:

  • Die unflexible PPP-RL muss durch eine patientenorientierte Personalbemessung und Krankenhausfinanzierung (wie z.B. das Plattformmodell) ersetzt werden.
  • Die „Regionale Pflichtversorgung“ benötigt eine bundesweit einheitliche fachgebietsspezifische Definition.
  • Eine Ambulantisierung stationärer Behandlungen und Sicherstellung der Versorgung bei fehlenden Personalkapazitäten ist nur durch eine Reform der Finanzierung von Psychiatrischen Institutsambulanzen erreichbar.
  • Der Widerstand der Kostenträger gegen die Stationsäquivalente Behandlung sollte unterbunden und die Rahmenbedingungen der Stationsäquivalenten Behandlung so gefördert werden, dass eine weitere Verbreitung möglich ist. Auch bedarf es eines „Zwischenschritts“ zwischen stationsäquivalent und ambulant.
  • Eine neue Phase von Modellprojekten ohne Kontrahierungszwang ist zu vermeiden. Erfolgreiche Modelle müssen in der Fläche implementierbar werden.
  • Es gibt umfangreiche Vorarbeiten unter Förderung des BMG mit priorisierten Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Versorgung für psychisch kranke Minderjährige
    (vgl. Handlungsempfehlungen der Aktion Psychisch Kranke).


Für Rückfragen stehen wir jederzeit gerne zur Verfügung.


Mit freundlichen Grüßen

Für die DGKJP

Prof. Marcel Romanos 

Prof. Michael Kölch 

Prof. Renate Schepker

Für die BAG KJPP

Dr. Martin Jung

Dr. Marianne Klein

Positionspapier der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und der Fachverbände (DGKJP, BAG KJPP, BKJPP) zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz

Dieses Papier ist eine Positionierung der aktuellen Vorstände von BAG KJPP, BKJPP und DGKJP im Rahmen der Debatten um ein neues Selbstbestimmungsgesetz. Es ist keine öffentliche Stellungnahme im engeren Sinn. Das Papier soll insbesondere den Mitgliedern einen Anhalt geben, wie sich die wissenschaftliche Fachgesellschaft und die Fachverbände in der gesellschaftlichen Debatte positionieren.

Im jetzigen Eckpunktepapier der Koalitionsparteien werden Regelungen vorgelegt, die Änderungen im Personenstandsregister vorsehen. Demnach ist ab dem 14. Lebensjahr die Zustimmung der Sorgeberechtigten zwingend. Auf eine ergebnisoffene Beratung vor der Entscheidung bei entsprechenden, auszubauenden Stellen sollen Minderjährige und Sorgeberechtigte aktiv hingewiesen werden. Bei einem Dissens zwischen Sorgeberechtigten und Kind/Jugendlichen muss letztendlich eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung des Familiengerichts erfolgen. Generell soll gelten, dass eine erfolgte Personenstandsänderung mindestens 12 Monate weiter bestehen muss. Sie ist nicht kurzfristig wieder rückgängig zu machen. Des Weiteren wird die Änderung für den bzw. die Betroffene:n kostenpflichtig sein.

Der DGKJP, der BAG KJPP und dem BKJPP ist es wichtig, dass mögliche gesetzliche Regelungen keinen Automatismus bezüglich einer Medikationsgabe (incl. Pubertätsblocker) oder operativer Maßnahmen vorsehen. Gerade auf Grund der komplexen und umfassenden Entwicklung von Jugendlichen, die nicht bis zum 18. Lebensjahr abgeschlossen ist, hätte der Vorstand in einer allzu weit reichenden Regelung ein Problem gesehen. Regelungen, die ein altersunabhängiges Recht auf Medikation oder operative Maßnahmen gleichzeitig mit einer sozialen Transition enthalten hätten, wären aus Sicht der wissenschaftlichen Fachgesellschaft und der Fachverbände abzulehnen. Jeglicher Zugang zu somato-medizinischer Behandlung bedarf einer sorgfältigen leitliniengerechten medizinischen Indikationsstellung. Bei Minderjährigen unterliegt dies einer besonderen ethischen Verantwortung aufgrund des Irreversibilitätsdilemma bei frühem, ebenso wie bei spätem Beginn einer Behandlung. Das Eckpunktepapier lässt solche „Automatismen“ nicht erkennen.
Die Indikationen für medizinische Interventionen müssen weiterhin individuell gestellt werden nach der aktuellen Evidenzlage. Unter Federführung der DGKJP wird derzeit eine AWMF S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter erarbeitet. Diese Leitlinie wird Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Therapie basieren auf dem zum jetzigen Zeitpunkt höchsten wissenschaftlichen Evidenzgrad. Klinisch wird weiterhin die Unterstützung des familiären Umfeldes bei einer entsprechenden Problematik eines Jugendlichen wichtig sein. Eine abstrakte Orientierung am Kindeswohl in komplizierten Fällen, die ggfs. das Recht des Kindes gegen die eigenen Eltern durchsetzt, wird der Entwicklung des Jugendlichen und einer Familie nicht helfen, wenn dies zum Verlust der familiären Bindungen führt. Hier wird neben rechtlichen Aspekten auch die professionelle kinder- und jugendpsychiatrische und –psychotherapeutische Prozessbegleitung des gesamten Familiensystems im Vordergrund stehen müssen. Nur so wird auch in konfliktären Situationen in Familien sowohl dem Art. 6 GG, wie auch dem §1626(2) Genüge getan werden können.

Die Vorstände von DGKJP, BAG KJPP und BKJPP sehen in der skizzierten Regelung einen Kompromiss, der aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht vertretbar ist. Alle weiteren Maßnahmen sollten dem bei Jugendlichen besonders aufwändig und sorgfältig zu gestaltenden diagnostischen und oft auch therapeutischen Prozess mit ergebnisoffenem Ausgang zwischen den behandelnden Ärzten und Therapeuten, Jugendlichen und ihren Familien vorbehalten bleiben.

Generell gehört es bei vielen Thematiken (wie einem Coming-Out von Homosexualität oder Fragen der ethnischen oder sozialen und familiären Zugehörigkeiten) zum therapeutischen Alltag in unserem Fachgebiet, dass Patient:innen eine Realitätstestung zu empfehlen ist. Bereits jetzt ist es so, dass Kinder und Jugendliche auch ohne Änderung des gesetzlichen Personenstandes sich im Zuge einer sozialen Transition im öffentlichen Raum erproben können. Dabei ist es wichtig, dass von öffentlichen Erziehungsinstitutionen (Kindergärten, Schulen) keine Diskrimination erfolgt. Wir begrüßen, dass durch die Möglichkeit der Personenstandsänderung bei unter 18jährigen zunächst in einer sozialen Transition Rollensicherheit und -klarheit von Jugendlichen und ihrer sozialen Umgebung entwickelt und eine neue Identität erprobt werden kann. Der Vorstand ordnet die im Eckpunktepapier vorgesehene Regelung unter dieser Perspektive ein. Auf Grund der möglichen Reversibilität der Personenstandsänderung sieht der Vorstand hier weder eine drohende Vorfestlegung, noch eine weitreichende Gefahr für Jugendliche. Des Weiteren wird abzuwarten sein, in welchem Umfang z.B. Patient:innen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie von der so eröffneten Möglichkeit überhaupt Gebrauch machen wollen.

Gleichwohl fordern die Vorstände ein entsprechendes Monitoring und epidemiologische Forschung zu Auswirkungen und Veränderungen, die der geplanten Gesetzesänderung folgen können. Diese wird unserer fachlichen Beratung bedürfen und aus Routinedaten nicht zu generieren sein.

Berlin/Schleswig/Mainz, September 2022

Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) für die geplante Cannabis-Abgabe an Erwachsene: Prävention und Jugendschutz als Handlungsmaxime – ausreichende Behandlungskapazität und Monitoring als Handlungsnotwendigkeit

Die Kinder- und Jugendpsychiater:innen und -psychotherapeut:innen und die Kinder- und Jugendärzt:innen in Deutschland haben in einem gemeinsamen Statement der Fachgesellschaften und Verbände vor den möglichen Risiken einer Cannabislegalisierung gewarnt und appelliert, etwaige Legalisierungsbestrebungen nicht auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen auszutragen. Alle Vorsätze, die Legalisierung mit einem bestmöglichen Jugendschutz zu verbinden, haben sich in vielen Legalisierungsländern als Illusion erwiesen. An diesem Appell hält die DGKJP auch in Anbetracht der folgenden Empfehlungen zur Definition der Altersgrenze für eine Cannabis-Abgabe an Erwachsene, zu notwendigen Verbesserungen in der Behandlung und Rehabilitation riskant Cannabis konsumierender und cannabisabhängiger Kinder und Jugendlicher sowie des zugehörigen Monitorings fest.

1. Die DGKJP empfiehlt, bei der geplanten Cannabis-Abgabe an Erwachsene die untere Altersgrenze auf 21 Jahre und idealerweise auf 25 Jahre festzulegen.

Begründung:
a) Das Gehirn ist aufgrund der bis zum Alter von 25 Jahren stattfindenden Reifungsprozesse hochgradig vulnerabel. Eine Altersgrenze bei 25 Jahren stellt die Fürsorgefunktion des Staates in den Vordergrund und setzt ein deutliches Signal für den Schutz vor Gesundheitsgefahren junger Menschen durch Drogengebrauch.
b) Je später der Einstieg in regelmäßige Konsummuster erfolgt, umso geringer ist die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung mitsamt deren psychischen, somatischen und sozialen Langzeitfolgen (siehe DGKJP et al. 2022).
c) Die Risikowahrnehmung junger Menschen dürfte angesichts einer Altersgrenze für die Cannabis-Abgabe bei 25 Jahren und eines begründeten gesetzlichen Verbots der Weitergabe legal erworbener Produkte an Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren adäquat hoch bleiben. Die Risikowahrnehmung nahm in den USA nach Berichten der UN im Zusammenhang mit deutlich niedrigeren Altersgrenzen für die Cannabisabgabe stark ab. Der Anteil der Jugendlichen, die Cannabis als schädlich empfinden sank in den USA um 40 Prozent (UNODC 2022). In den USA liegt in den 19 Bundesstaaten, die Cannabis legalisiert haben, die untere Altersgrenze bei 21 Jahren (https://marijuana.procon.org/legal-recreational-marijuana-states-and-dc/); in Kanada liegt sie bei 19 Jahren.
d) Jugendgerichte sind auch für Heranwachsende bis zum Alter von 21 Jahren zuständig und verurteilen bei Entwicklungsverzögerungen unabhängig vom Delikt nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG). Nachweislich sind Therapieauflagen gemäß § 10 JGG (die dann auch von der Jugendgerichtshilfe begleitet werden können) ein wirksames Mittel zur Förderung der Therapieadhärenz im Falle einer notwendigen Behandlung und Rehabilitation. Auch bei erwachsenen Betroffenen erfolgen – trotz höherer statistischer Risiken und Benachteiligungen – seltener Abbrüche durch die Betroffenen mit Therapieauflage. Bei jugendlichen PatientInnen wird durch Therapieauflagen eine längere Rehabilitationsbehandlung erreicht und die Behandlung öfter wieder aufgenommen als bei PatientInnen ohne diese Auflagen (Künzel et al. 2012; Nützel et al 2012)
e) Einzelne Jugend-Suchtschwerpunkte in Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (z.B. am ZfP Südwürttemberg, pers. Mitteilung) haben mit den Krankenversicherungen aus o.g. Gründen vereinbart, bei vorliegenden Entwicklungsrückständen die von Suchtmitteln abhängigen und abhängigkeitsgefährdeten 18- bis 21-Jährigen behandeln zu dürfen. Dieses ist auch im OPS 9-694 entsprechend festgelegt worden und gilt generell ebenso für die niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater:innen. Seitens des stationären Segments wird diese Möglichkeit aber nur selten (bei Wiederaufnahmen) wahrgenommen, da die Kapazitäten derzeit bereits für die unter 18-jährgen PatientInnen nicht ausreichen.

2. Sollten politische Entscheidungen dazu führen, die untere Altersgrenze für eine Cannabisabgabe an Erwachsene auf 18 Jahre zu legen, sind aus Sicht der DGKJP folgende Empfehlungen unabdingbar:

a) Bis zum Alter von 25 Jahren muss sich die Abgabe in den Verkaufsstellen auf niedrig dosierte THC-Produkte beschränken und eine Begrenzung der Abgabemenge pro Woche berücksichtigen, so dass idealiter jeder junge Volljährige nur für den Eigenbedarf einkauft. Nachweislich fördern höhere Konzentrationen und häufigerer Konsum u. a. die Gefahr von Entwicklungsstörungen des Gehirns sowie psychotischer Erkrankungen bei prädisponierten jungen Menschen (siehe DGKJP et al. 2022).
b) Die DGKJP empfiehlt die Einführung eines „THC-Führerscheins“. Derartige verpflichtende Beratungen sind auch in anderen Kontexten geregelt, bzw. will der Gesetzgeber z.B. bei der Frage der Personenstandsänderung bei Minderjährigen die verpflichtende Beratung einführen. Da diese Altersgruppe sehr selten regelhaft in medizinischer Behandlung ist, besteht die Gefahr einer unerkannten Abhängigkeitsentwicklung. Eine regelhafte Vorsorgeuntersuchung (ähnlich wie z.B. betriebsärztliche Untersuchungen) einschließlich fachkundiger Beratung könnte zumindest einen Teil der jungen Erwachsenen mit einem beginnenden riskanten Konsum oder psychischer Komorbidität (inkl. psychotischer Frühsymptome) identifizieren und zur Drogenabstinenz motivieren. Im Rahmen der Fachberatung sollten die folgenden Inhalte thematisiert werden: Kombination des Cannabiskonsums mit anderen legalen oder illegalen Drogen und Arzneimitteln und der daraus resultierenden Gefahren, Gefahren des Konsums von Schwarzmarktprodukten, Aufklärung über das Verbot der Weitergabe sowie der Sanktionen bei Konsum im Straßenverkehr bzw. der Gefahren des Fahrens unter THC-Einfluss, Aufklärung über die Gefahren des Konsums in der Schwangerschaft, Aufklärung über die Wirkdauer je nach Konsumform und der möglichen Langzeitauswirkungen, Warnhinweis bezüglich der Verwendung von Cannabisprodukten zur persönlichen Problemlösung.
c) Die DGKJP empfiehlt die Einführung einer „Bewährungszeit“ in Analogie zum Kfz-Führerschein, verpflichtender Beratung und deren Überprüfung (siehe Projekt der indizierten Prävention FRED) bei Verstößen gegen das Weitergabeverbot sowie nach Drogennotfällen; möglicher Entzug der Einkaufslizenz bzw. des THC-Führerscheins als Konsequenz bei wiederholter Zuwiderhandlung und Fremdgefährdung; Therapieauflagen bei Komplikationen.
d) Die DGKJP empfiehlt die Sicherstellung einer ausreichenden Anzahl an Behandlungsplätzen für diejenigen KonsumentInnen, die trotz dieser Maßnahmen intensive Konsummuster und eine Cannabisabhängigkeit mit psychischen, körperlichen und sozialen Folgeschäden entwickeln – sowohl im akutpsychiatrischen als auch im Reha-Bereich (detaillierte Ausführungen zur Ausgestaltung siehe 3.).
e) Die DGKJP empfiehlt die Schaffung spezialisierter Jugend-Suchtberatungsstellen, mindestens aber Qualifizierung der Beratungsstellen für den Umgang mit jungen Menschen in empfohlener und verpflichtender Beratung; aufsuchende Beratung am Intensivbett bei Drogennotfällen; Qualifikation für den Einbezug der Aufenthalts- bzw. Herkunftsfamilien in die Beratung.
f) Es müssen die wirksame Kontrolle und Sanktionierung des Verbots der Weitergabe an Minderjährige sowie weitere adäquate Maßnahmen des Jugendschutzes sichergestellt werden.
g) Es muss ein vollständiges Werbeverbot für THC-Produkte in Medien, Kanälen und Einrichtungen, die junge Erwachsene gern zum Feiern besuchen, umgesetzt werden.
h) Geregelte Öffnungszeiten der Abgabestellen sollen ein „Nachladen“ erschweren.

3. In der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung sowie der medizinischen Rehabilitation müssen für behandlungsbedürftige junge Cannabiskonsumierende aus Sicht der DGKJP erhebliche Verbesserungen umgesetzt werden.


Im Einzelnen handelt es sich um die im Folgenden genannten Maßnahmen:

a) Schaffung ausreichender, spezialisierter Behandlungsplätze mit speziellem therapeutischem Milieu und Konzept in jedem Bundesland (in OPS bereits für die Auslösung des Kodes 9-694 entsprechend festgelegt) mit Qualifikation für die Behandlung der häufigen Komorbidität und integrierter Beschulungsmöglichkeit durch eine Schule für Kranke (nicht in allen Bundesländern vorhanden, jedoch aufgrund häufiger Schulabbrüche und der Notwendigkeit einer Reintegration in das Bildungswesen erforderlich). Konkrete Empfehlungen dazu siehe auch Leitlinie Qualifizierte Entzugsbehandlung für Kinder und Jugendliche der Suchtkommission der DGKJP (Thomasius et al. 2016).
b) Festlegung, dass bereits ein schädlicher Cannabisgebrauch (ICD 10: F12.1) bei psychiatrischer Komorbidität eine Aufnahmeindikation darstellt (wird teilweise seitens der Medizinischen Dienste bestritten). Ermöglichung mehrerer Behandlungsanläufe und -abbrüche (jugendtypische Muster).
c) Verbesserung der Zuweisungsbedingungen im Vorfeld durch Stärkung der Suchtkompetenz (Schulungen) der MitarbeiterInnen in Jugendhilfeeinrichtungen, Schulen sowie Kinderarzt- und Primärarztpraxen; verbindliche Vorstellung der PatientInnen nach Drogennotfällen in Suchtberatungsstellen durch Vermittlung der Intensivstationen in Pädiatrie und internistischer Intensivmedizin mittels aufsuchender Suchtberater:innen am Krankenbett (vgl. Projekt HaLT); Überlegungen zu einer diesbezüglichen Definition von „Kindeswohlgefährdung“ gegenüber dem Jugendamt ab der zweiten erforderlichen Behandlung aufgrund einer Intoxikation.
d) Integration der Jugendlichen, bei denen eine Rehabilitationsbehandlung indiziert ist (etwa 10-20% der auf Akutstationen behandelten Jugendlichen, siehe Reha-Statement der Gemeinsamen Suchtkommission der KJPP-Fachverbände und DGKJP, Holtmann et al. 2016) in das Leistungsspektrum der DRV, auch wenn keine eigenen Versicherungszeiten vorliegen. Ziel der Reha-Behandlung ist die Herstellung der späteren Arbeitsfähigkeit. Festlegung eines Rehabilitations-Satzes, der die nötige Personalkapazität für Weiterbehandlung der Komorbiditäten, Aufsichtspflicht, pädagogische Tagesstrukturierung, Spektrum alternativer Freizeitgestaltung anbieten kann; Festlegung einer Gruppengröße analog zu den Festlegungen für Jugendhilfeeinrichtungen; Kinderschutzkonzept. Anschluss an ein Angebot für Schulunterricht, das mindestens einen Hauptschulabschluss ermöglicht (Schule für Kranke oder SBBZ emotionale Entwicklung) und Berufsvorbereitung. Ermöglichung des Einbezugs der Herkunftsfamilien mit Fahrkostenerstattung (Familientherapie, Familienseminare). Verbindliches Entlassmanagement (mit Überleitung in Suchtberatung, Jugendhilfe, Schule, Berufsvorbereitung, Ausbildung etc.) und eingeplanten Belastungserprobungen im Herkunftsmilieu. Auch in diesen Fällen müssen mehrere Anläufe und Abbrüche der Behandlung eingeräumt werden.

4. Prävention ausbauen, neugestalten und ein umfassendes Suchtpräventionskonzept für Jugendliche und Familien entwickeln und implementieren

Präventive Maßnahmen müssen bei einer Legalisierung von Cannabis deutlich verstärkt werden, um einem Anstieg der Konsumprävalenzen durch eine mutmaßlich steigende Verfügbarkeit der Substanz entgegenzuwirken. Das generelle Präventionsdilemma in Deutschland, dass insbesondere verhaltensbezogene präventive Maßnahmen Risikogruppen nicht in ausreichendem Maße erreichen, muss in diesem Fall aufgrund der besonderen konsumbezogenen Risiken für Heranwachsende exemplarisch überwunden werden. Es müssen „community“-basierte sowie risikogruppenadaptierte und zugleich evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen entwickelt, implementiert und monitoriert werden. Dies ist eine kurz-, mittel- und langfristige Aufgabe, die einer kontinuierlichen Evaluation bedarf. Für die Entwicklung, Implementierung und Evaluierung geeigneter Maßnahmen zur Prävention und Frühintervention sind ggfs. finanzielle Mittel aus den Einnahmen der Cannabisabgabe an Erwachsene zu verwenden.
Die geplante regulierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene ist an verschiedener Stelle als „window of opportunity“ für weitere Verbesserungen in der Drogenpolitik benannt worden. Dies gilt neben der Stärkung zielgruppenspezifischer Präventionsangebote sowie verbesserten Maßnahmen zur Umsetzung des Jugendschutzes und weiteren verhältnispräventiven Maßnahmen (s.o. Empfehlungen zu Altersgrenzen, Werbeverboten etc.) ebenso wie für ein verbessertes und empirisch veranlagtes Monitoring der Versorgungslage (Inanspruchnahme, Bedarfsplanung und Versorgungskapazitäten) in Deutschland.
Daher ist aus Sicht der DGKJP zudem erforderlich:

5. Eine epidemiologische Beobachtung problematischer Gebrauchsformen sowie ein Monitoring der in den spezialisierten jugendpsychiatrischen Zentren akutpsychiatrisch behandelten jungen Suchtpatienten muss jetzt eingerichtet werden

Zum Schutz der Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen müssen die Auswirkungen der diskutierten regulatorischen Änderungen im Bereich der Cannabispolitik sorgfältig überwacht werden. Während Konsumtrends psychoaktiver Substanzen auch im Zeitverlauf bei Kindern und Jugendlichen gut abgebildet werden (durch die regelmäßigen querschnittlichen Erhebungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA), gibt es derzeit keine Beobachtungsmöglichkeit im Bereich problematischer Gebrauchsformen und der damit verbundenen gesundheitlichen Probleme und Behandlungsbedarfe für diese Altersgruppe. Eine kontinuierliche Beobachtung und gesundheitspolitische Bewertung der im Abgabe-regulierten Kontext potenziell ansteigenden und veränderten kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsnachfrage ist ohne den Aufbau entsprechender Monitoringsysteme nicht möglich. Die Datenlage zur Verbreitung problematischer Konsumformen sowie die Inanspruchnahme von ambulanter und stationärer Behandlung in der Suchthilfe hinkt bei Kindern und Jugendlichen derjenigen für Erwachsene weit hinterher. Orientierende internationale Studien im Kontext der Cannabislegalisierung liegen für Kinder und Jugendliche zwar vor, sind aber aufgrund oftmals deutlicher Unterschiedlichkeiten in den jeweiligen Versorgungssystemen und Regulationsmodellen nicht direkt bzw. nur sehr bedingt auf hiesige Verhältnisse übertragbar.
Über ein bundesweites Monitoring könnten mögliche Veränderungen (z.B. hinsichtlich des Ausmaßes klinisch relevanter Konsumformen und konsumbezogener Schäden, Behandlungsbedarf, Zuweisungspraxis, Bezugsquellen der Substanzen etc.) infolge veränderter Gesetzgebung besser erkannt und geeignete Maßnahmen zur Minimierung substanzbezogener Probleme geplant werden. Um auf mögliche veränderte Versorgungsbedarfe reagieren zu können und damit einen Schaden für die besonders vulnerable Gruppe der Kinder und Jugendlichen zu verringern, sollten entsprechende Vorhaben daher bereits jetzt bzw. vor Inkrafttreten von gesetzlichen Änderungen gestartet werden.
Die Gemeinsame Suchtkommission der deutschen kinder- und jugendpsychiatrischen Verbände und wissenschaftlichen Fachgesellschaft (BAG KJPP, BKJPP, DGKJP) vertritt die in Deutschland vorhandenen spezialisierten Suchtschwerpunkte in kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Kliniken, in denen die Akutbehandlung von jungen Menschen mit Suchtstörungen sichergestellt wird. Dieses Gremium bietet einen geeigneten Rahmen für die Entwicklung, Umsetzung und fortlaufende Auswertung wirksamer Maßnahmen zum Monitoring cannabisbezogener Entwicklungen in der medizinischen Versorgung.
Eine erste Datengrundlage kann der Datensatz nach §21 KHG bieten, der die Versorgungsdaten aus den Krankenhäusern abbildet. Das InEK ist dem Geschäftsbereich des BMG zugeordnet. Die ambulanten Daten wären über die KV-Abrechnungsdaten ebenfalls verfügbar. Eine entsprechende kontinuierliche Auswertung wäre einzuführen. Ein entsprechender Beirat zur Datenauswertung und -bewertung sollte gebildet werden.

Renate Schepker, Michael Kölch, Nicolas Arnaud, Rainer Thomasius

Berlin, im August 2022

Weiterführende Literatur entnehmen Sie bitte dem PDF.