Entwurf eines Gesetzes zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz – IKJHG)
Gemeinsame Stellungnahme
der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik
und Psychotherapie (DGKJP), der Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BAG KJPP) und des Berufsverbands für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP) zum
Entwurf eines Gesetzes zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz – IKJHG)
Die kinder- und jugendpsychiatrischen und –psychotherapeutischen Fachverbände BAG KJPP und BKJPP, bzw. die wissenschaftliche Fachgesellschaft DGKJP begrüßen, dass nunmehr ein Referentenentwurf für ein inklusives SGB VIII vorliegt.
Wir haben uns in den letzten Jahren und den letzten Legislaturperioden stets für eine inklusive Lösung unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe eingesetzt, auch aufgrund der für Kinder und Jugendliche und ihre Familien unhaltbaren Trennung zwischen den Beeinträchtigungsformen und den in der Praxis immer wieder festzustellenden „Verschiebebahnhöfen“.
Insofern möchten wir an dieser Stelle explizit unsere Freude darüber ausdrücken, dass nunmehr ein Regelungsentwurf vorliegt, der wichtige Kernforderungen von uns aufgegriffen hat.
In der Kommentierung beschränken wir uns vornehmlich auf Punkte, die uns aufgrund unserer Expertise besonders wichtig sind.
1. Zwei getrennte Leistungskataloge
Generell war von uns die Forderung gestellt worden, dass es einen gemeinsamen Leistungskatalog gibt, dies ist im Entwurf nun nicht vorgesehen. Uns ist die Herausforderung bewusst, die ein einheitlicher Leistungskatalog bedeutet hätte. Die jetzt vorgeschlagene Regelung erscheint uns prinzipiell als gangbarer Weg zu einer künftigen Integration. Es wird in der praktischen Ausgestaltung darauf ankommen, dass verbundene Hilfen und Leistungen tatsächlich erfolgen, und der von uns weiterhin zumindest als möglich gesehenen Gefahr, dass es zwar „ein Haus“, jedoch ein „Doppelhaus“ wird, zu begegnen. Hier wird in der Zukunft in der Umsetzung auch durch Begleitforschung und ggfs. Schulung sowie Organisationsberatung darauf zu achten sein, dass für Betroffene der – aus dem Entwurf auch herauszulesende – Grundsatz einer einheitlichen Planung und Hilfe-/Leistungserbringung erfahrbar ist.
2. Wesentlichkeitskriterium
Wir begrüßen, dass das „Wesentlichkeitskriterium“ sich im Entwurf nicht wiederfindet. Wir hatten bereits in den verschiedenen Dialogforen darauf hingewiesen, dass dies medizinisch bei Kindern und Jugendlichen nicht sinnvoll ist und nur eine scheinbare Distinktion zwischen Gruppen suggeriert.
3. § 38a Bedarfsfeststellung bei Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen
Wir begrüßen, dass im Entwurf hinsichtlich der Bedarfsfeststellung eine pragmatische und bürokratiearme (gestufte) Lösung vorgesehen ist, indem auf vorhandene Gutachten, ärztliche Stellungnahmen oder vergleichbare Bescheinigungen aufgebaut werden soll.
Die Schwierigkeit, Personengruppen, wie bisher im § 35a SGB VIII, die entsprechende Stellungnahmen abgeben können, zu benennen, erkennen wir aufgrund des Umstands, dass nunmehr alle (körperliche, seelische, geistige und Sinnes-) Beeinträchtigungen im SGB VIII als Grundlage für die wechselwirkungsbedingte Behinderung gelten.
Eine spezifische Aufzählung qualifizierter Berufsgruppen nach Behinderungsart halten wir für nicht zielführend. Die Formulierung „ob bereits Gutachten, ärztliche Stellungnahmen oder vergleichbare Bescheinigungen vorliegen“ beinhaltet u.E. nach für den Bereich der seelischen Behinderung auch die Berufsgruppe der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen.
Tatsächlich könnte sich in der Praxis die Gefahr ergeben, dass aufgrund nicht hinreichend eingebrachter fachärztlicher Qualifikation eine fehlerhafte Diagnose als Grundlage für die Bedarfsfeststellung dienen könnte. Hier sehen wir aber Abhilfe darin, dass in der Zukunft entsprechende Schulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen stattfinden werden. Dies war bisher auch hinsichtlich des bestehenden § 35a SGB VIII der Fall, oder im Rahmen der neu eingeführten Funktion der Verfahrenslots:innen. Solche Qualifizierung sehen wir als unabdingbar, v.a. bei der offenen Formulierung der möglichen Aussteller:innen von Bescheinigungen, Stellungnahmen und Gutachten.
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) weist aufgrund einer postulierten Knappheit kinder- und jugendpsychiatrischer bzw. kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischer Leistungsanbieter:innen darauf hin, dass die Regelung, dass die gewährten Leistungen der Eingliederungshilfe nicht von der Person oder dem Dienst oder der Einrichtung erbracht werden sollen, der die Person angehört, die eine Stellungnahme nach Satz 1 abgibt, ggfs. zu Engpässen führen könnten (§ 38a Abs. 2 S. 4 SGB VIII-RefE).
Hier schließen wir uns explizit nicht der Position der AGJ an: für uns ist nicht nachvollziehbar, welche Konstellation eintreten sollte, in der der Leistungserbringer aus dem KJPP/KJPt-Bereich kommen und gleichzeitig Stellungnahmeverfasser sein sollte.
Die Verschiebung von psychotherapeutischen Leistungen im Sinne der Richtlinien-Psychotherapie im SGB V hin zu SGB VIII finanzierten Psychotherapien sehen wir kritisch. Im Gegenteil, durch die Reform der Psychotherapieausbildung sehen wir hier die Gefahr eines „neuen Markts“ approbierter, aber nicht weitergebildeter Psychotherapeut:innen, außerhalb des SGB V Bereichs, die dann für Therapien im SGB VIII Bereich zur Verfügung stehen. Damit wäre aber die Qualifikation der Anbieter:innen schlechter als im Regelsystem des SGB V, was letztlich zu einer Schlechterstellung der Minderjährigen führen würde, die Leistungen über das SGB VIII erhalten würden.
Gerade aufgrund des Anreizfaktors, Leistungen der Eingliederungshilfe zu perpetuieren, ohne die individuelle Notwendigkeit kritisch zu prüfen, sehen wir hier eine Trennung von Stellungnahmeerbringer und Leistungserbringer auch unter den erwähnten entwicklungspsychologischen und generellen Entwicklungspotentialen gerade im Bereich der psychischen Gesundheit für essentiell an.
Wir sehen eher das Risiko, dass sich Gefahren für eine Entwicklungsperspektive von Kindern und Jugendlichen ergäben, würde diese Trennung nicht aufrechterhalten, und damit eine neutrale, ggfs. von eigenen wirtschaftlichen Interessen getrennte Beurteilung von Eingangsvoraussetzungen und Notwendigkeiten fehlt.
4. § 38c (3)
„Bei der Aufstellung und Überprüfung des Hilfe- und Leistungsplans soll im Einzelfall diejenige Person oder Stelle, deren Stellungnahme, Bescheinigung oder Gutachten als Entscheidungsgrundlage dient sowie der behandelnde Arzt beteiligt werden“
Wir verstehen den Realismus, den die Formulierung „im Einzelfall“ hinsichtlich der Beteiligung ausdrückt. Da gerade aber neben schriftlichen Stellungnahmen betreffend der Aufstellung und auch der Überprüfung ggfs. weitergehende Informationen sinnvoll sein können und da die Hilfe- und Leistungsplankonferenz als Kann-Regelung formuliert ist, sendet die Formulierung „im Einzelfall“ noch mehr die Botschaft aus, dass dies nur selten der Fall sein sollte. Zwar mag der Einbezug ärztlich/psychotherapeutischer Expertise bei den unterschiedlichen Beeinträchtigungsformen unterschiedlich stark notwendig sein. Andererseits ist gerade bei den Mehrfachbehinderungen und bei seelischen Behinderungen (bei letzteren auch wegen der hohen Entwicklungsdynamik) eine verstärkte Einbeziehung sinnvoll. Da gerade in den letzten Jahren eine stärkere Kooperation gefordert wurde, fällt diese Formulierung weit hinter den bisherigen in §36 SGB VIII formulierten Anspruch zurück („Erscheinen Hilfen nach § 35a erforderlich, so soll bei der Aufstellung und Änderung des Hilfeplans sowie bei der Durchführung der Hilfe die Person, die eine Stellungnahme nach § 35a Absatz 1a abgegeben hat, beteiligt werden“).
Da zunehmend auch moderne Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen, wie digitale Zuschaltungen etc., sollte berücksichtigt werden, dass eine Beteiligung auch ressourcenschonend in Zukunft möglich ist.
Wir empfehlen daher, „im Einzelfall“ zu streichen und durch eine Formulierung wie: „bei Notwendigkeit“ oder „in geeigneter Form“ zu ersetzen, womit einerseits die Prüfung, ob ein Einbezug sinnvoll ist, obligat wird, wie auch eine Entscheidungsfreiheit im Sinne einer realitätsnahen Ausgestaltung möglich bleibt.
Da derzeit etwa im SGB V durchaus der Kooperationsgedanke, etwa im Bereich der neuen KSV-Psych KJ-Richtlinie des G-BA eher gestärkt wird, und auch seitens der DGKJP, BAG KJPP, BKJPP sowie auch der Aktion Psychisch Kranke (APK) (und vielen weiteren Expert:innen und Gremien, wie auch dem Bundesjugendkuratorium) mehr Kooperation als zentrales Entwicklungsziel für die Zukunft zwischen den Systemen gesehen und gefordert wird, sehen wir die derzeitige Formulierung eher als kontraproduktiv.
5. § 39 Pflegeperson Schutz des Kindes
Wir begrüßen die Regelungen zur Sicherung des Kinderschutzes bei Kindern in Pflegeverhältnissen.
6. § 40 Zulässigkeit von Auslandsmaßnahmen
Generell halten wir aus kinder- und jugendpsychiatrischer und –psychotherapeutischer Sicht aus vielen Gründen, die im Diskurs bekannt sind, Auslandsmaßnahmen für eine ultima ratio und absolute Ausnahmen im Rahmen von Hilfen zur Erziehung oder Leistungen im Sinne der Eingliederungshilfe für Jugendliche mit psychischen Störungen und seelischer Behinderung. Für andere Beeinträchtigungsformen spielen unserem Wissen nach diese Maßnahmen keine Rolle. Insofern halten wir hier sowohl die Kooperation wie auch die fachärztliche/fachpsychotherapeutische Einschätzung für unablässig und ethisch geboten.
Sicherlich handelt es sich um ein Versehen, dass in es in der Synopsenfassung zu § 40 (2) Satz 1 in der Entwurfsfassung heißt, dass der örtliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe (KJH), „zur Feststellung einer seelischen Störung mit Krankheitswert die Stellungnahme einer in § 35a Absatz 1a Satz 1 genannten Person einholen“ solle. Dies bezieht sich auf die derzeit gültige Norm, im Referentenentwurf ist die Qualifikation explizit benannt.
Die Formulierung der „Störung mit Krankheitswert“ ist ohnehin im Sinne des modernen Behinderungsbegriffs, aber auch per se hinsichtlich der psychiatrischen Klassifikation obsolet und medizinisch unsinnig. Eine psychische Störung im Sinne des ICD-10 (oder zukünftig ICD-11) hat immer Krankheitswert (vgl. hierzu auch diverse Kommentierungen, u.a. Wiesner/Wapler 2022).
Bezüglich der Qualifikation würden wir uns, anders als bei der bisherigen Praxis zum aktuell gültigen § 35a SGB VIII eine etwas engere Definition wünschen:
Zu Feststellung oder Ausschluss einer psychischen Störung ist die Stellungnahme eine:r Ärzt:in für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, eine:r Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:in, eine:r Psychotherapeuten:in mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen einzuholen.
Eine Ausweitung der Personengruppe wie im derzeitigen § 35a SGB VIII halten wir für diesen speziellen Fall der Auslandsmaßnahmen, die ja nur ultima ratio sind, die besonders starke Eingriffe in das Leben von Minderjährigen darstellen und denen meist hochkomplexe biografische Bedingungen wie auch komplexe psychische Störungsbilder zugrunde liegen, für nicht notwendig. Die Verfügbarkeit der genannten Gruppen in den wenigen Fällen sehen wir als gesichert an (auch durch einen Aufwuchs im letzten Jahrzehnt, zudem sind diese Jugendlichen meist in den zuständigen Kliniken für KJPP bekannt); zum anderen halten wir solche Maßnahmen für in das Persönlichkeitsrecht der Jugendlichen eingreifende Maßnahmen, dass die Qualifikation der Stellungnehmenden auf dem höchsten Niveau sein sollte, bzw. die Expertise durch eine entsprechende formale Qualifikation gegeben sein sollte.
Wir raten dringend dazu, dass die Stellungnahme konkretisiert wird:
Die Stellungnahme sollte zumindest Angaben enthalten:
• zur Vertretbarkeit einer Auslandsmaßnahme bei Vorliegen der psychischen Störung
• zu den notwendigen medizinischen/ psychotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen während einer Auslandsmaßnahme.
Damit ergibt sich auch die Verpflichtung für die Maßnahme, zu sichern, dass z.B. notwendige Behandlungen oder Kriseninterventionen stattfinden können.
In der Praxis stellen solche Maßnahmen die „Alternative“ zu freiheitsentziehenden Maßnahmen im Rahmen der KJH in Deutschland dar. Insofern sollte die Norm zu Auslandsmaßnahmen zumindest Regelungen zur Sicherung von Rechten, wie sie auch im § 1631b BGB vorgesehen sind, beinhalten und ggfs. eine richterliche Kontrolle beinhalten.
Uns ist bewusst, dass dieser Aspekt nicht unmittelbar mit der Ausgestaltung des SGB VIII zu einem inklusiven KJH-Recht zusammenhängt, dennoch sollte die Chance genutzt werden, hier zumindest vergleichbare Standards für diese zahlenmäßig zwar kleine, hinsichtlich der Vulnerabilität aber besonders gefährdeten Gruppe zu etablieren.
7. § 41 Hilfe für junge Volljährige
Wir gehen davon aus, dass die Regelungen des § 41 sowohl für Hilfen zur Erziehung wie auch für Leistungen zur Eingliederungshilfe gelten. Um dies zu präzisieren müsste an dieser Stelle der auch an anderen Stellen verwendete Passus verwendet werden:
„Hilfen und Leistungen zur Eingliederung für junge Volljährige“
Sollte dies jedoch bisher nicht intendiert sein, so plädieren wir ausdrücklich für eine Änderung und Gleichstellung der Regelungen.
8. Sonstiges
Hinsichtlich der Verfahrenslots:innen begrüßen wir die Entfristung des § 10b SGB VIII-RefE.
Die in § 35c vorgesehenen Regelungen zu Früherkennung/-förderung unterstützen wir sehr, da dadurch die bisherige gute Praxis fortgesetzt werden kann.
Schlussbemerkung
Insgesamt begrüßen wir den Entwurf und möchten nochmals unterstreichen, dass aus fachlicher Sicht ein Scheitern einer inklusiven Lösung nicht verständlich wäre und dies auch bei uns und in der Fachwelt zu großer Empörung führen würde. Nach einem über mehrere Legislaturperioden andauerndem Prozess der Entwicklung einer inklusiven Ausgestaltung unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe, an dem wir uns sehr aktiv beteiligt haben, hielten wir ein Scheitern an etwaigen Partikularinteressen (auf welcher Ebene auch immer) für desaströs und wir hielten dies für einen Schaden für die betroffenen Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Familien. Insofern appellieren wir an alle Beteiligten im parlamentarischen Verfahren, das Gesetzgebungsverfahren nicht scheitern zu lassen. Wir stehen sehr gern als notwendiger Kooperationspartner:innen für die praktische Ausgestaltung eines IKJHG zur Verfügung.
Berlin/ Schleswig/ Mainz, 01.10.2024