Kooperation Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und stationäre Kinder- und Jugendhilfe
Mögliche Herangehensweisen und notwendige Sensibilität für die Rechte minderjähriger Patient:innen
Erarbeitet durch die Gemeinsame Kommission Jugendhilfe, Arbeit, Soziales und Inklusion (Hubertus Adam, Gundolf Berg, Frank Forstreuter, Michael Kölch, Thomas Meysen, Veit Roessner)
Ziel
Die vorliegende Handreichung soll:
- mögliche Elemente der und Vorgehensweisen zu Kooperationen zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie (KJPP) und Kinder- und Jugendhilfe (KJH) darstellen,
- auf mögliche rechtliche und ethische Probleme hinweisen, die sich bei einer Kooperation der beiden Systeme bezüglich der Kinder und Jugendlichen in ihrer Rolle als Patient:innen bzw. für Ärzt:innen in ihrer Rolle als Behandler:innen ergeben können und
- in der KJPP dafür sensibilisieren, gerade bei Kooperationen mit freien Trägern der KJH die eigene Rolle sowohl für sich als auch gegenüber allen anderen, insbesondere den Kindern und Jugendlichen als Patient:innen, transparent zu machen.
1. Einleitung
Kinder und Jugendliche, die im Rahmen von Hilfen zur Erziehung (HzE, § 27ff SGB VIII) oder der Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII) in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) und in Pflegefamilien leben, haben oft einen komplexen, fachübergreifenden Hilfebedarf. Diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen hat ein besonders hohes Risiko, eine psychische Störung aufzuweisen. Verschiedene Studien haben dies international wie national belegt (Schmid et al. 2008). Diese Studien haben auch gezeigt, dass einerseits Kinder und Jugendliche in stationärer KJH oftmals keine adäquate kinder- und jugendpsychiatrische und psychotherapeutische Versorgung erhalten (Schmid et al. 2008). Andererseits sind fast 70 % aller kinder- und jugendpsychiatrischen Patient:innen im stationären klinischen Kontext in Kontakt mit der KJH (Beck 2015). Biographisch haben diese jungen Menschen oft besonders starke Belastungen erlebt, wie Vernachlässigung oder Misshandlung. Sie zeigen auch besonders komplexe Störungsbilder, inklusive Substanzabusus (Dölitzsch et al. 2014, Seker et al. 2021), oder oftmals so stark herausforderndes Verhalten, dass auch Hilfen der KJH scheitern (Schmid et al., 2014). Zudem sind sie in ihrer Teilhabe stark eingeschränkt (Gander et al. 2019). Insofern ist die Notwendigkeit einer gemeinsamen Diagnostik, Betreuung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen von Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (KJPP) und KJH wissenschaftlich belegt und evident.
In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Anstrengungen unternommen, um die Kooperation zwischen KJH und KJPP zu verstärken (Mack et al., 2019). Dies fand auch Niederschlag in einem Positionspapier der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) . Ziel des gemeinsamen Handelns muss sein, dieser schwer belasteten Population eine möglichst große Teilhabefähigkeit zu ermöglichen. Die gemeinsame Kommission „Jugendhilfe, Arbeit, Soziales und Inklusion“ hat im Auftrag der Vorstände der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände nunmehr eine Handreichung erarbeitet, mit der sie den in der KJPP-Tätigen konkrete Hinweise gibt, auf welchen Ebenen Kooperation stattfinden, wie diese ausgestaltet werden kann und auch welche Grundsätze beachtet werden sollten, um auch die Patientenrechte bei der Kooperation der beiden Systeme in den Mittelpunkt zu stellen. Dies ist unter anderem deshalb von großer Bedeutung, da es sich um eine besonders vulnerable Population handelt.
2. Ebenen der Kooperation
Generell ist bei der Kooperation zwischen fallübergreifend-strukturellen Kooperationen und Kooperationen auf einer patientenbezogenen Eben im Einzelfall zu unterscheiden. Außerdem ist zwischen Kooperationen mit dem öffentlichen Träger der KJH (Jugendamt) und mit freien Trägern (Einrichtungen) zu differenzieren. Fallübergreifend-strukturelle Kooperationen können sein:
- Vereinbarungen zwischen einem Jugendamt und einer Institution der KJPP bezüglich des Vorgehens bei Diagnostik und Umsetzung von Leistungen i.S. von Hilfen zur Erziehung (HzE, § 27ff SGB VIII) oder der Eingliederungshilfe (§ 35a SGB VIII);
- Planung oder Verständigung zu überregionalen Bedarfen und Angeboten in verbindlichen Netzwerken auf regionaler oder überregionaler Ebene (diese können auch über die KJPP und KJH hinaus weitere Partner einbeziehen);
- Sogenannte „Krisenvereinbarungen“ (zum Vorgehen bei Krisen in einer Einrichtung der KJH und ggfs. Aufnahme in einer Institution der KJPP). Diese beinhalten eine strukturelle und patientenbezogene Komponente; zudem tangieren sie oft sowohl den öffentlichen Träger wie freie Träger der KJH
- „Heimkindersprechstunden“, also die Kooperation der KJPP mit einzelnen Einrichtungen kann institutionalisiert werden; bei entsprechender Behandlung von Kindern und Jugendlichen in diesen Einrichtungen tritt auch eine patientenbezogene Komponente hinzu.
- Supervision in Einrichtungen der KJH, mit oder ohne Stattfinden einer Behandlung einzelner junger Menschen in den betreffenden Einrichtungen.
Aus der nicht abschließenden, beispielhaften Aufzählung wird deutlich, dass die Kooperationsmöglichkeiten vielfältig sind. Deutlich wird aber auch, dass Kooperationen zwischen den Systemen auch die individuelle Behandlung von Patient:innen betreffen können. Insofern müssen Kooperationen auch dahingehend reflektiert werden, inwieweit sich bezogen auf das individuelle Ärzt:innen-Patient:innen Verhältnis Rollenkonflikte ergeben können.
3. Mögliche Probleme der Kooperation bezogen auf Patientenrechte
Kinder und Jugendliche, die sich in stationärer KJH befinden bzw. diejenigen, bei denen es im Rahmen der Diagnostik und Behandlung in einer Institution der KJPP in Erwägung gezogen wird, verfügen oft nicht über Sorgeberechtigte, die ausreichende Ressourcen haben, um die Rechte der Kinder und Jugendlichen einzufordern. Entweder, weil sie als Eltern selbst überfordert sind oder ihnen als Amtsvormünder unzureichende Zeit zur Verfügung steht. Zudem kann in vielen Fällen die räumliche Entfernung einer Einrichtung vom Lebensort der Eltern elterliches oder vormundschaftliches Engagement in der Behandlung erschweren. Außerdem stehen Eltern wie junge Menschen in Einrichtungen in besonderem Maße in Abhängigkeitsverhältnissen, die eine freie Entscheidung über kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung, Therapie oder Medikation erheblich einschränken können. Die Frage der Aufklärung und Einwilligung zur Behandlung (inkl. medikamentöser Behandlung) ist bei diesen Kindern und Jugendlichen daher oftmals viel komplexer als bei Kindern, die im elterlichen Haushalt leben. Einige der Kinder und Jugendlichen haben Ergänzungspfleger:innen oder Vormünder, bei anderen gibt es übertragene Einwilligungen zur Übernahme der Aufgaben im Rahmen der Gesundheitsfürsorge durch die Sorgeberechtigten an die Einrichtungen der KJH. Bei manchen besteht zwar formell ein Sorgerecht durch die Eltern oder einen Elternteil, de facto sind die Eltern oder der Elternteil aber kaum oder gar nicht erreichbar oder in der Lage, das Sorgerecht adäquat auszuüben
Insofern stellt die Kooperation mit den Einrichtungen der KJH für die Institutionen der KJPP in der Behandlung junger Menschen eine besondere Herausforderung dar. Dies macht eine Rollenklärung unabdingbar: Unterschiedliche Seiten stellen unterschiedliche Anforderungen an die Behandlung. Bezogen auf die Behandlung erschwert dies den Ärzt:innen, die Rolle der Vertrauensperson des jungen Menschen auszufüllen. Kooperationen können Konflikte auf standesrechtlicher oder behandlungsrechtlicher Ebene wie auch mit ethischen Aspekten zur Folge haben. Es handelt sich um eine hochkomplexe Konstellation, in der die KJH (öffentliche und freie Träger) und Sorgeberechtigte ihre Interessen mitbringen und vertreten und dabei aber eben auch die Rechte der Kinder und Jugendlichen keinesfalls aus den Augen verlieren dürfen.
Grundsätzlich muss geklärt werden, ob zwischen Einrichtungen der KJH und Institutionen der KJPP eine auf das Individuum bezogene Kooperation oder eine institutionelle Zusammenarbeit besteht bzw. aufgebaut werden soll. Eine individuelle Diagnostik und Behandlung durch die KJPP kann nur mit einem Behandlungsvertrag realisiert werden, der von der/ dem Sorgeberechtigten unterschrieben wird. Die diesbezüglichen Schwierigkeiten liegen oft in der Erreichbarkeit der Unterschriftsberechtigten und in der fraglichen Zustimmung zur Behandlung durch die Betroffenen. In schwierigen Situationen wird sowohl in der KJH dadurch Druck auf die Kinder, Jugendlichen und Sorgeberechtigten ausgeübt, dass ein Verbleib in der Institution vom Einverständnis zur Behandlung abhängig gemacht wird. Wird aber die KJPP quasi als unfreiwillig „mitgekaufte Katze im Sack“ oder sogar als „Strafinstitution“ dämonisiert, sinken die Chancen auf Akzeptanz der dortigen Hilfsangebote. Eine institutionelle Kooperation, die eine gemeinsame Ebene von Pädagogik und psychiatrisch-psychotherapeutischem Handeln beschreibt, kann Handlungsoptionen der Bewohner:innen bzw. Patient:innen einschränken, statt sie zu erweitern. Daher muss problematisiert werden, dass ggfs. eine individuelle Behandlung dadurch beeinträchtigt werden kann.
Unabhängig von individueller Behandlung können Absprachen in Kooperationsverträgen hinsichtlich Supervision, anonymisierter Fallbesprechungen etc. dazu führen, dass sich die professionellen Kooperationspartner:innen vor allen Dingen über die Patient:innen unterhalten, statt sich mit ihnen zu verständigen. Die damit verbundene Einschränkung der Selbstbestimmung spiegelt sich häufig in der gegenseitig vorliegenden bzw. nicht vorliegenden Schweigepflichtentbindung. Insbesondere bei den oft wenig strukturierten Familienverhältnissen ist daher die Einhaltung derartiger formaler Grundlagen von hoher Bedeutung.
Eine Kooperation setzt außerdem das generelle Recht auf freie Arztwahl, d.h. des/ der Behandler:in nicht außer Kraft und sollte vorbestehende, andernorts realisierte Behandlungen nicht beenden. Gerade im sensiblen psychiatrisch-psychotherapeutischen Feld muss auch dem jungen Menschen das Recht belassen werden, ggfs. eine:n andere:n Therapeut:in haben zu wollen.
Insofern müssen die Rollen von Supervision für (Sozial-)Pädagog:innen und individuelle Behandlung der Patient:innen (so wie auch in der Therapie mit Eltern) abgegrenzt werden. Dem jungen Menschen müssen diese Rollen altersentsprechend transparent gemacht werden und er muss auch darüber aufgeklärt werden, was in einer therapeutischen Begleitung ggfs. den Fachkräften an Informationen weitergegeben wird. Eine patientenbezogene Kooperation darf nicht allein in der Verordnung von Medikation bestehen, sondern muss psychiatrisch umfassend erfolgen und sollte auch zumindest psychotherapeutische Angebote machen, oder in solche vermitteln.
Zusammengefasst müssen folgende fachliche Standards gewährleistet sein:
a. Klärung des Rahmens
Supervisionen, Fachberatungen einerseits und individuelle Behandlungen andererseits sind organisatorisch, vertraglich und finanziell voneinander eindeutig abzugrenzen. Der Rahmen und die Rolle müssen auch den Beteiligten wie Patient:innen und Sorgeberechtigten klar sein. Auch ist die eigene Rolle immer zu reflektieren; als Behandler:in eines/r Patient:in kann die Rolle eine andere sein, als diejenige, die man als Supervisor:in z.B. einer Wohngruppe innehat.
b. Freie Arztwahl
Das Recht auf freie Wahl des/der Behandler:in muss gewahrt bleiben. Dies schließt aus, dass alle Bewohner:innen einer Einrichtung der KJH automatisch Patient:innen der kooperierenden Institution der KJPP werden. Vorbestehende Behandlungskontexte sollten nicht ohne Grund aufgelöst, sondern möglichst fortgesetzt werden, wo dies sinnvoll möglich ist. Es muss grundsätzlich möglich sein, Bewohner:in einer Einrichtung der KJH zu sein, ohne Patient:in der kooperierenden Institution der KJPP zu werden.
c. Wirksamer Behandlungsvertrag
Jeder individuelle Behandlungsfall erfordert eine wirksame Einverständniserklärung der Personensorgeberechtigten bzw. der für den Wirkungskreis der Gesundheitssorge bevollmächtigten Personen. Dies kann bei Kindern und Jugendlichen, die in Einrichtungen der KJH leben, oftmals sehr schwierig sein, insbesondere wenn sie in Einrichtungen entfernt vom Lebensort der Sorgeberechtigten leben. Insofern stellen sich sowohl der Behandlungsvertrag als auch generell die Aufklärung über therapeutische Maßnahmen als komplex und aufwändig dar. In der Praxis wird Einrichtungen der KJH oftmals eine Vollmacht zur Ausübung der Gesundheitssorge von den Sorgeberechtigten gegeben. Dennoch sollte zumindest Kontakt zu den Sorgeberechtigten gesucht werden. Die Aufklärung generell, aber insbesondere bei Psychopharmakotherapie, sollte nach den fachlichen und rechtlich geltenden Standards erfolgen und die Patient:innen sind altersentsprechend aufzuklären
d. Schweigepflicht
Für den gegenseitigen Informationsaustausch zwischen Einrichtungen der KJH und Institutionen der KJPP ist es in jedem Einzelfall erforderlich, dass eine rechtsgültige gegenseitige Schweigepflichtsentbindung vorliegt. Diese wiederum setzt eine informierte Einwilligung voraus, die von den Patient:innen freiwillig gegeben wurde, also auch versagt und jederzeit zurückgenommen werden kann. Diese Möglichkeiten sind den Patient:innen bzw. Bewohner:innen aufrichtig und glaubwürdig zu vermitteln.
e. Orientierung an fachlichen Standards
Diagnostik und Behandlung orientieren sich in jedem Fall an den aktuell gültigen Leitlinien und Klassifikationssystemen. Dies gilt auch für die medikamentöse Therapie, die bei Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der KJH den gleichen Standards wie bei Kindern folgt, die bei ihren Eltern leben. Entsprechende Sicherheitsuntersuchungen, Wirkungsüberprüfung etc. sowie die kritische Prüfung der Indikation im Verlauf sind zu beachten.
f. Individuelle Behandlungsentscheidungen
Die Behandlungsentscheidungen sind individuell je nach Bedarf der Patient:innen zu treffen. Standardmedikationen oder andere standardisierte Behandlungsmaßnahmen, die alle Patient:innen in einer Einrichtung der KJH erhalten, entsprechen diesem Kriterium nicht und sind daher abzulehnen. Ebenso sollten Ärzt:innen nicht dazu beitragen, dass Einrichtungen der KJH Entscheidungen über den Verbleib eines Kindes/ Jugendlichen von etwaigen ärztlich empfohlenen Maßnahmen abhängig machen. Die Entscheidungen über die Inanspruchnahme von Leistungen der KJH sind in der KJH zu treffen. Die Gewährung und Erbringung der Leistungen sind mit pädagogischen Aspekten zu begründen.
g. Hilfeplanung und Stellungnahmen für das Jugendamt oder Gerichte
Bei bestehender Kooperation mit einer Einrichtung der KJH muss im Rahmen der Hilfeplanung und etwaigen Stellungnahmen seitens Institution der KJPP ebenfalls beachtet werden, dass hier die Interessen des/der Patient:in im Mittelpunkt stehen und nicht die Kooperation mit der Einrichtung der KJH. Es muss immer bedacht werden, dass eine Stellungnahme im Rahmen des Ärzt:innen-Patient:innenverhältnisses erfolgt.
h. Umgang mit Konflikten
Zwischen Eltern und Einrichtung der KJH können konflikthafte Situationen entstehen. Hier ist eine Parteinahme ohne eine entsprechend im Rahmen der Patientenbehandlung erfolgte fachgerechte Einbeziehung der Eltern in die KJPP-Behandlung und daraus gewonnenem fachlich fundiertem Eindruck zu vermeiden. Die Kompetenzen der KJPP sollten gerade dazu genutzt werden, deeskalierend zu wirken.
Auch im Rahmen der Behandlung kann es zu Konflikten zwischen Eltern und der Institution der KJPP kommen. Auch hier sollte Elternarbeit die Konflikte verringern. Eine Ablehnung etwa einer medikamentösen Therapie ist oft nur ein Ausdruck verschiedener Konflikte, die im Rahmen der Fremdunterbringung des Kindes bestehen; sie können auch biografische Hintergründe haben (z.B. bei psychisch kranken Eltern). Bei nicht sorgeberechtigten Eltern sollte hier die Person, die die Vormundschaft innehat, gemeinsam mit den Eltern einbezogen werden. Ggfs. kann eine Zweitmeinung hilfreich sein. Nur in sehr seltenen Fällen kann erforderlich sein, bei Verweigerung der Zustimmung zur Behandlung das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung zu prüfen. Zu bedenken ist, dass solche Maßnahmen im Rahmen einer medikamentösen off-label Behandlung sehr gut begründet sein sollten. Zudem ist immer zu bedenken, dass Minderjährige selbst in eine medikamentöse Behandlung einwilligen können, wenn sie als einwilligungsfähig eingeschätzt werden.
4. Grundlagen und Elemente bei Kooperationen
4.1. Netzwerkarbeit
Netzwerkarbeit kann dazu dienen, Kooperation im regionalen Versorgungsgebiet fallunabhängig aber auch fallbezogen zu verbessern. Dies schließt die Teilnahme an regionalen Foren wie an sog. “AG 78” (nach SGB VIII), psychosozialen Arbeitsgruppen etc. ein. Regulärer Austausch kann auch bei fallbezogenen Problemen hilfreich sein. Die Kooperation mit dem Jugendamt kann informell, aber auch formalisiert gestaltet werden (Kooperationsverträge). Dies kann auch unter Wahrung des Sozialdatenschutzes z.B. anonyme Fallberatung etc. inkludieren. Solche Kooperationen sind im engeren Sinne im SGB V nicht explizit vergütet; für den stationären Sektor ergeben sich aber aus den Tätigkeitsprofilen nach PPP-RL durchaus Aufgaben der Netzwerkarbeit als Regelaufgaben. Im ambulanten Sektor ist die fallunabhängige Netzwerkarbeit nicht entsprechend ausreichend benannt, d.h. sie wird bisher auch nicht vergütet. Generell ist eine ausreichende Finanzierung der notwendigen Ressourcen für fallunabhängige Netzwerkarbeit, v.a. in Institutionen der KJPP zu begrüßen. Dabei gilt es auch zu beachten, dass zwar in Einrichtungen der KJH und in Institutionen der KJPP (Sozial-)Pädagog:innen tätig sind, Kinder- und Jugendpsychiater:innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen aber in der Regel ausschließlich in Institutionen der KJPP.
Netzwerkarbeit kann präventiv beitragen, als zielgerichtete Maßnahmen und Aktivitäten, die auch der Vermeidung von Krisensituationen zwischen den Systemen mit gegenseitiger – ungünstiger – Verantwortungsdelegation dienen.
Das praktische Vorgehen kann beinhalten:
- Für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit komplexen und fachübergreifenden Hilfebedarfen ist eine frühzeitige Kontaktaufnahme der beteiligten Systeme und der interdisziplinäre Austausch, z.B. im Rahmen von regelmäßigen Fallkonferenzen, zur Klärung von Zuständigkeiten und Aufgaben notwendig.
- Kooperationsvereinbarungen, Fachbegleitung und Fachberatung der Fachkräfte der KJPP und der KJH dienen dabei nicht nur der Prävention, sondern qualifizieren die Fachkräfte in der individuellen Einschätzung von sich anbahnenden Krisen von Kindern und Jugendlichen. Durch ein interdisziplinäres Fallverstehen können krisenhafte Entwicklungen reduziert werden, Notfälle verringert und passgenaue Hilfen entwickelt werden.
- Die interdisziplinäre Kooperation mit dem für Kinder und Jugendliche wichtigen Bereich Schule sollte regional ausgebaut werden.
4.2. Kooperationsvereinbarungen
Kooperation kann informell gelingen, sie kann aber auch durch Vereinbarungen verbindlich gestaltet werden. Die Entwicklung von Kooperationsmodellen und Kooperationsvereinbarungen erfolgt auf regionaler Ebene: Nur vor Ort ist eine den örtlichen Gegebenheiten angepasste Lösung sinnvoll zu etablieren. Zwischen den öffentlichen und freien Trägern der KJH, dem öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD), den Kliniken/ Praxen für KJPP und eventuell auch unter Einbeziehung von Schule sollten Kooperationsvereinbarungen entstehen, die die örtlichen Bedarfe berücksichtigen. Die Kooperationsvereinbarungen sollten folgende Punkte enthalten
- verlässliche Absprachen zwischen KJH, KJPP (und Schule) zu Form, Inhalt und Prozessen der Kooperation und den einzelnen Aufgaben der Kooperationspartner;
- eine Qualifizierung der Hilfen zur Erziehung, der Hilfeplanung und der schulischen Versorgung;
- eine Qualifizierung der kinder- und jugendpsychiatrischen Angebote und somit eine Verbesserung der psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen;
- unter Berücksichtigung der Schweigepflicht einen Austausch quantitativer Daten der stationären Behandlungsaufenthalte in einer Institution der KJPP und der ambulanten und stationären Hilfen durch die KJH;
- die Bemühungen der beteiligten Systeme, die Wartezeiten bei Inanspruchnahme von Leistungen der KJPP zu verringern;
- die Bemühungen, die Anzahl der Verlegungen bzw. Abbrüche von Beziehungen im stationären Setting sowohl der KJH als auch der KJPP und von Schulwechseln im Zusammenhang mit psychischen Störungen zu verringern;
- eine nachhaltige Implementierung von Kooperationsstrukturen, wie etwa im Rahmen von AGs nach §78 SGB VIII in den beteiligten Regionen.
4.3. Aufgaben der Kooperationspartner
a. Zuständigkeit und Verbindlichkeit
Die Steuerungsverantwortung für Maßnahmen nach dem SGB VIII liegt beim Jugendamt, die Verantwortung für einzelne Teilprozesse/-schritte bei denjenigen, in deren Verantwortungsbereich sich die Kinder und Jugendlichen jeweils befinden. Die Benennung verbindlicher Verantwortlicher für das einzelne Kind/Jugendlichen durch alle Beteiligten ist essenziell. Diese sichern den organisationsinternen und externen Informationsfluss und nehmen die entsprechenden zwei- bzw. dreiseitigen Termine wahr.
b. Fachlichkeit
Das Jugendamt sichert einen multiperspektivischen, interdisziplinären Hilfeplanungsprozess, indem es Informationen verschiedener Fachkräfte einholt, diese Informationen verknüpft, verteilt und in die kurz- und mittelfristige Hilfe- und Perspektivplanung einfließen lässt. Es beruft rechtzeitig die turnusmäßigen bzw. außerplanmäßigen Hilfeplangespräche ein. Gemeinsame Fallberatungen sichern den Informationsfluss und das interdisziplinäre Fallverstehen, tragen zu fachlich fundierten Entscheidungen der Beteiligten bei, fördern die Handlungssicherheit der Fachkräfte und dienen der Entwicklung und Stabilisierung guter Kooperation. Helferkonferenzen und Fallberatungen können bei Bedarf von allen Beteiligten einberufen werden. Alle Beteiligten unterstützen die Teilnahme der zuständigen Mitarbeiter:innen an diesen Fallberatungen.
Rechtzeitig vor Entlassungen bzw. Ende einer Diagnostik oder Behandlung gibt es ein weiteres Gespräch mit den für das einzelne Kind/ Jugendlichen zuständigen Fachkräften, in dem Handlungsempfehlungen für die Zukunft besprochen werden und die weitere Zusammenarbeit im Fall abgestimmt wird. Die Beteiligten beziehen die Personensorgeberechtigten bzw. Eltern und das einzelne Kind/ den Jugendlichen so weit wie möglich in alle Prozesse ein, stimmen sich dazu untereinander ab, werben durch gute Information/ Aufklärung um ihre Kooperationsbereitschaft und helfen dabei, Ängste und Vorbehalte gegen das jeweils andere System abzubauen (z.B. durch Vorgespräche/ Klinikbesichtigungen).
Die Fachlichkeit jeder Institution bedingt die einrichtungsspezifische Dokumentation, darüber hinaus sollte eine für alle zugängliche rechtlich gesicherte Dokumentation über Handlungsziele und Verlauf erfolgen.
4.4. Vorgehen in Krisensituationen
Jede spezifische Einrichtung stellt innerhalb ihrer Gegebenheiten und in eigener Verantwortung fest, wann eine Krise besteht. Wird die KJPP hinzugezogen, entscheidet die KJPP über die Indikation für eine stationäre Aufnahme im Anschluss an die Krisenintervention. Nach abgeschlossener Krisenintervention in der KJPP gelten alle fallbezogenen Kooperationsstandards wie für geplante Maßnahmen. Es sollte vereinbart werden, dass sich bei wiederholten Krisen eines Kindes bzw. Jugendlichen gemeinsame Fallreflexion bzw. Supervision sowohl auf die Kinder und Jugendlichen als auch bewusst auf die Dynamik der Helfer:innenebene beziehen. Hierfür sind sowohl die Organisationstrukturen und Verantwortlichkeiten als auch die Finanzierung sicherzustellen.
4.5. Evaluation der Kooperation
„Gute Arbeit“ ist in allen Bereichen an vielen Punkten abhängig von der Kooperation mit den anderen Beteiligten. Zwischen Vertreter:innen der stationären Einrichtungen der KJH in der Versorgungsregion der Institution der KJPP, den beteiligten Jugendämtern, den Schulen und der Institution der KJPP sollte deswegen ein gemeinsamer Qualitätszirkel eingerichtet werden, in dem regelmäßig folgende Aspekte besprochen werden:
- die Qualität der Kooperation (Zufriedenheit, Stolpersteine, „Störfälle“),
- die Praxis mit den vereinbarten Standards (Zufriedenheit, Praktikabilität),
- die Erforderlichkeit weiterer Standards (z.B. für: Krise, konkrete Leistungsbausteine, einzelne Prozessschritte).
Die beteiligten Institutionen sollten konkrete Vertreter:innen benennen, die verbindlich im Qualitätszirkel mitarbeiten. Alle Mitglieder sorgen innerhalb ihrer jeweiligen Institutionen für Informationsfluss und Rückkopplungsschleifen, um die Arbeit des Qualitätszirkels vorzubereiten, erarbeitete Standards abzustimmen und vereinbarte Grundsätze guter Kooperation in ihren Institutionen im Alltag verankern zu helfen.
5. Schlussbemerkung
Die Ausführungen zeigen, dass Kooperationen durchaus zeitaufwändig sind und Ressourcen benötigen. Dabei ist zu beachten, dass vor allem die KJPP nur für fallbezogene Arbeit bei ihr aktuell in Behandlung befindlicher Kinder und Jugendlicher eine einigermaßen auskömmliche Finanzierung erhält. Insbesondere sollte aber bei der Kooperation der Systeme nicht vergessen werden, dass die Rechte junger Menschen in der Betreuung und Behandlung nicht zugunsten einer reibungslosen Kooperation der Systeme zurückstehen. Das ärztliche Vertrauensverhältnis zu Patient:innen und ihren Angehörigen ist die zentrale Aufgabe auch in der KJPP. Dies herzustellen oder zu erhalten ist ebenfalls sehr aufwändig, gerade in den beschriebenen Kontexten mit sog. Multiproblemlagen. Insofern soll der in dieser Handreichung dargestellte komplexe Aufwand nicht abschrecken, Kooperationen einzugehen. Er soll aber ein Bewusstsein für möglich Probleme schaffen, die sich in der Kooperation ergeben können. Die Kommission hält es für gewinnbringend, unter diesen Aspekten Kooperationen zu gestalten, auch weil dadurch eine bessere Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die in den Einrichtungen oder Pflegefamilien der stationären KJH leben, möglich ist, und gleichzeitig deren Rechte gestärkt werden können.
Berlin/ Mainz/ Schleswig, Juli 2024